Nach der Preisexplosion bei Öl und Benzin sollen zum ersten Mal seit dem Golfkrieg 1991 wieder die internationalen Ölreserven angezapft werden. Die USA stellten am Freitag einen entsprechenden Antrag bei der Internationalen Energie-Agentur (IEA) in Paris. Deutschland ist bereit, im Rahmen einer internationalen Hilfsaktion Teile seiner Ölreserven auf dem Markt zu werfen. "Es ist für uns selbstverständlich, dass wir den amerikanischen Antrag unterstützen", sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). Dennoch erreichten die Benzinpreise nach vier Preiserhöhungen innerhalb einer Woche in Deutschland historische Höchststände.
Eine Entscheidung der IEA stand am Freitagnachmittag noch aus. Schröder betonte, er gehe von weltweiter Zustimmung aus. Der Kanzler appellierte ausdrücklich an die Ölkonzerne, nach der international abgestimmten Maßnahme "auch wirklich" zu einer Senkung der Preise beizutragen. "Es kann ja nicht sein, dass die nationalen Erdölreserven international abgestimmt in den Markt gebracht werden, aber an der Preisfront nichts passiert."
Stichwort: Nationale Ölreserve
In Deutschland ist die Erdölbevorratung für Krisenfälle im Erdölbevorratungsgesetz geregelt. Demnach hat der Erdölbevorratungsverband (EBV) in Hamburg die Pflicht, Motorenbenzine, Mitteldestillate wie Flugbenzin und Diesel sowie schwere Heizöle in einer Menge zu bevorraten, die dem bundesdeutschen Verbrauch von 90 Tagen entspricht. Zu dieser Bevorratung haben sich sowohl die Europäische Union als auch die Mitglieder der Internationalen Energie Agentur (IEA) verpflichtet. Insgesamt werden nach EBV-Angaben in Deutschland 23,13 Millionen Tonnen Rohöl und Produkte gelagert. Ein Großteil der Vorräte lagert in Salzkavernen im Norden Deutschlands. Um Teile der Reserve entnehmen zu können, ist eine Verordnung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit erforderlich. Das geht laut Gesetz nur, wenn die Entnahme der «Verhütung unmittelbar drohender oder zur Behebung eingetretener Störungen in der Energieversorgung oder zur Erfüllung von Verpflichtungen gegenüber der EU oder der IEA» dient. Eine Störung der Energieversorgung liegt beispielsweise dann vor, wenn auf dem Weltmarkt Öl und Öl-Produkte nicht mehr in einem ausreichenden Maße beschafft werden können. Obwohl sich die EBV-Bevorratungspflicht auf 90 Tage beläuft, sind die Gesamtbestände regelmäßig erheblich höher. Die Rohölvorräte des EBV werden den Angaben zufolge größtenteils in Kavernen gelagert, die an Pipelines angeschlossen sind. Der EBV hat als Vorbereitung auf den Krisenfall Verarbeitungsverträge mit allen deutschen Raffineriegesellschaften abgeschlossen, um bei Bedarf das Rohöl jeweils dort verarbeiten lassen zu können, wo freie Kapazitäten bestehen. Unabhängig von der 90-Tage-Reserve gab es bis 1997 die Bundesrohölreserve. Sie betrug 7,32 Millionen Tonnen, wurde zwischen 1974 bis 1981 vom Bund angeschafft und ab 1997 verkauft.
Erhöhrungen und Senkungen
Der Zugriff der Staatengemeinschaft auf die internationalen Öl- und Benzinreserven hat die heftigen Preissteigerungen am Freitag zunächst gestoppt. Am europäischen Ölmarkt in Rotterdam gingen die Notierungen für eine Tonne Benzin nach der Ankündigung der Maßnahmen durch Bundeskanzler Gerhard Schröder von 870 auf 800 Dollar zurück. Daraufhin senkte der deutsche Marktführer Aral die Preise für Normal- und Superbenzin um zwei Cent je Liter und korrigierte damit teilweise eine Preiserhöhung um sechs Cent wenige Stunden zuvor. Der Shell- Konzern erklärte, er werde sich den Marktbedingungen anpassen und seine Kraftstoffe zu wettbewerbsfähigen Preisen verkaufen.
Dennoch haben die Benzinpreise nach vier Erhöhungen innerhalb einer Woche in Deutschland historische Höchststände erreicht. Unter dem Strich stiegen die Preise am Freitag nochmals um vier Cent für einen Liter Benzin und um zwei Cent für Diesel. Damit kostet Superbenzin im bundesweiten Durchschnitt an Markentankstellen etwa 1,44 Euro je Liter, während für Diesel rund 1,18 Euro zu bezahlen sind. Der Preis für Superbenzin ist innerhalb einer Woche um rund 14 Cent je Liter gestiegen. Hintergrund sind massive Benzinkäufe der USA auf dem europäischen Markt wegen der Beeinträchtigung der US- Ölproduktion durch den Hurrikan "Katrina".
In der deutschen Mineralölwirtschaft stieß die Ankündigung, die Ölreserven anzapfen zu wollen, auf Skepsis. Es müsse zunächst geklärt werden, ob Schröder von Rohöl oder von Ölprodukten gesprochen habe, sagte ein Sprecher des Mineralölwirtschaftsverbandes (MWV). Rohöl sei ausreichend vorhanden und könne von den nach dem Hurrikan "Katrina" stillgelegten Raffinerien in den USA ohnehin nicht verarbeitet werden. Die europäischen Raffinerien hingegen seien gut versorgt und arbeiteten auf Hochtouren. Die USA benötigten fertige Ölprodukte, vor allem Benzin. Ob die Maßnahmen zu sinkenden Preisen führen könnte, lasse sich aus heutiger Sicht nicht einschätzen.
Aus dem Wirtschaftsministerium hieß es, die geplante Menge könnte als Rohöl oder als Ölprodukte bereitgestellt werden. Die IEA empfehle vorrangig Produkte und hier vor allem Benzin.

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Zwei Milliarden Barrel täglich
Nach Angaben Schröders sollen aus der internationalen Reserve zunächst für 30 Tage etwa zwei Millionen Barrel (je 159 Liter) täglich auf den Markt gebracht werden. Die genaue Menge werde von der IEA festgelegt, der deutsche Beitrag würde sechs Prozent betragen. Schröder stellte klar, dass der Schritt nichts zu tun habe mit den Forderungen aus der Union und FDP. Mehrere Oppositionspolitiker hatten sich dafür ausgesprochen, in einem nationalen Alleingang die Ölreserven anzuzapfen und so Verbraucher und Wirtschaft zu entlasten. Regierungssprecher und Branchenexperten hatten dies als "unsinnig" und "populistisch" zurückgewiesen.
Die Voraussetzung für den jetzigen Schritt ist laut Schröder "eine andere, als das, was - wie ich finde - ohne Sachkenntnis bisher diskutiert worden ist". Vielmehr sei es zu einer Störung der Erdölversorgung weltweit gekommen. Diese sei eingetreten, weil gegenwärtig wesentliche Teile der amerikanischen Erdölversorgung nicht aufrecht erhalten würden. Daher werde der Antrag unterstützt. Die Konsequenz der IEA-Entscheidung wäre, dass die Nationalstaaten Teile ihrer Notreserven international abgestimmt in den Markt geben.