Wahlanalyse Vertrauen aufgebraucht

Meinungsforscher Manfred Güllner über die wachsende "Partei" der Nichtwähler.

Mehr als 61 Millionen Bundesbürger hätten sich vergangenen Sonntag an der Europawahl beteiligen können. 35 Millionen Menschen haben von diesem Recht keinen Gebrauch gemacht. Mit einem Anteil von 57 Prozent ist die "Partei der Nichtwähler" damit so groß wie nie zuvor in der Wahlgeschichte der Bundesrepublik. Die absolute Zahl der Nichtwähler ist fast dreimal so hoch wie bei der Bundestagswahl 2002.

Am stärksten gebeutelt wurde die SPD: Sie büßte von 18,5 Millionen Wählern im September 2002 fast 13 Millionen ein und erhielt nur noch 5,5 Millionen Stimmen (minus 70 Prozent). Auch die Union konnte ihr Wählerpotenzial nicht ausschöpfen: Die Zahl ihrer Wähler sank von 18,5 (2002) auf 11,5 Millionen bei der Europawahl. Der Wählerschwund der CSU war dabei größer als der der CDU: Die CDU konnte zwei Drittel, die CSU nur die Hälfte der Stimmen von 2002 gewinnen. Bei den Zahlen spielen Wechselwähler kaum eine Rolle: Erfahrungsgemäß ist ihr Anteil vernachlässigbar gering.

Die PDS mobilisierte am besten

Mobilisierungsdefizite finden sich auch bei den Liberalen: Sie erhielten am Sonntag fast zwei Millionen Stimmen weniger als bei der Bundestagswahl 2002 (minus 57 Prozent). Und auch die Grünen, die als Gewinner der Wahl gefeiert werden, erhielten eine Million Stimmen weniger als bei der Bundestagswahl. Allerdings war ihr Mobilisierungsgrad höher: Drei Viertel der Grünen-Wähler 2002 wählten auch 2004 grün. Noch besser konnte nur die PDS ihre Anhänger mobilisieren: 82 Prozent ihrer Bundestagswähler gingen auch bei der Europawahl wählen - ingesamt 1,6 Millionen. Lediglich die kleinen Splitterparteien konnten ihren Stimmanteil 2004 im Vergleich zu 2002 von knapp 1,5 auf über 2,5 Millionen steigern.

Wenn nur die Splitterparteien Stimmenzuwächse verzeichnen konnten, alle anderen aber verloren haben, greift die These, bei der Europawahl sei in erster Linie die Politik der rot-grünen Bundesregierung abgestraft worden, zu kurz. Sicherlich befindet sich die SPD in einer dramatischen Existenzkrise, wenn ihr nur neun von 100 Wahlberechtigten bei der Europawahl die Stimme geben. Dies ist ein weiterer Beleg für das geringe Vertrauen, das die Wahlbürger derzeit der SPD entgegenbringen.

Aber auch die Union wurde nur von 19 von 100 Wahlberechtigten gewählt. Dabei zeigen sich starke regionale Schwankungen: In Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und im Saarland wählten rund 25 Prozent aller Wahlberechtigten die CDU. In Bremen und Berlin bekam die Partei nur von zehn Prozent aller Wahlberechtigten die Stimme. In Brandenburg wählten sogar nur sechs von 100 Wahlberechtigten die CDU. Wenn die Europawahl eine Testwahl für die bundespolitische Stimmung gewesen wäre, dann hätte der Vertrauensbeweis für die Union deutlicher ausfallen müssen.

Europa hat keine politischen Konturen

Die Wahlenthaltung des größten Teils der Wahlbürger dürfte deshalb nur zum Teil auf Unzufriedenheiten mit der Berliner Politik zurückzuführen sein. Die Hauptursache für die Wahlverweigerung aber ist, dass es allen Parteien nicht gelungen ist, Europa politische Konturen zu geben und den Bürgern somit zu vermitteln, warum sie sich an einer Europawahl beteiligen sollten. Wenn als Folge die Zahl der Nichtwähler mit 57 Prozent mehr als doppelt so hoch war wie die Anteile von SPD und Union zusammen (knapp 28 von 100 Wahlberechtigten wählten CDU, CSU oder SPD), dann ist das ein Hinweis auf eine Vertrauenskrise, die nicht nur die SPD trifft.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Dass andere als rein bundespolitische Faktoren das Wahlverhalten der Bürger beeinflusst haben, zeigt auch ein Blick auf die Wähler in Thüringen. Hier erhielt die SPD bei der Landtagswahl nochmals fast 11 000 Stimmen weniger als bei der Europawahl, die CDU hingegen fast 50 000 Stimmen mehr. Und die Grünen bekamen beim Europawahlergebnis in Thüringen 5,5 Prozent der abgegebenen Stimmen, scheiterten aber bei der Landtagswahl an der Fünf-Prozent-Hürde. Dies zeigt, dass die Bürger differenzierter mit dem Stimmzettel umgehen, als es vorschnelle Wahleinschätzungen vermuten lassen.

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