Du erschrickst? Du erbleichst? Du möchtest schreien? Dann bist du nicht allein. Dann geht es dir wie (fast) allen. Weil sie dir nichts anbieten außer Verzicht. Weil sie reparieren statt zu gestalten. Weil sie dir deine Zukunft nicht beschreiben. Weil sie nichts wagen außer dem eigenen Scheitern. Weil ihre Würfel zu klein sind für den großen Wurf. Weil sie sich freuen über ihren Pakt, während du dich fragst, was es da zu freuen gibt. Du - und sie? Ach ja, du denkst immer noch, vielleicht mehr denn je, das seien zwei Welten? Deine Welt - und ihre Welt. Du bist das Volk - sie sind die Politik? Du irrst.
Du bist alles. Du bist Deutschland. Eine mächtige Kampagne versucht dir das einzutrichtern seit neuestem. Du bist Beethoven. Du bist Einstein. Du bist Goethe. Liest du, hörst du, siehst du. In der Zeitung, im Kino, im Fernsehen. Damit du aufwachst, aufschaust, aufdrehst. Aber tust du das? Oder denkst du: Ich und Einstein, das ist die wahre Relativitätstheorie, da schält sich mir das Äpfelchen? Dann bist du nicht allein. Dann geht es dir wie (fast) allen. Weil sie dir... Nein, um dich zu packen, bräuchte es andere Bilder, andere Texte. Damit du erschrickst. Erbleichst. Und dir der Schrei im Halse stecken bleibt. Damit du verstehst, endlich.
Du bist Merkel. Du willst etwas anderes. Etwas Neues, etwas Großartiges, etwas noch nie Dagewesenes. Etwas, das den deutschen Koloss von den blutschweren Beinen auf den blutleeren Kopf stellt. Etwas, das die ganze Welt in Erstaunen versetzt. Aber du sagst es nicht, du wagst es nicht, du begeisterst nicht, weder dich noch die anderen. Du bist ein Rätsel. Du bist vorsichtig, du bist misstrauisch, du bist verschlossen. Du brennst auf kleiner Flamme. Hauptsache, du bist dran, irgendwie mit irgendwem. Das ist doch schon was. Das ist 'ne Menge. Immerhin. Dann schaun mer mal. Die Zukunft kann warten, muss warten, das hat sie gelernt. So denkst du. Du!
Du bist Münte, bist die deutsche Sphinx. Du rufst heute: Reformen. Und morgen: Heuschrecken! Du freust dich heute auf die Welt, und morgen fürchtest du dich vor ihr. Du willst heute vererben, und morgen enterbst du. Du räumst heute fremde Sessel, und morgen klebst du am eigenen. Du willst heute Demokratie wagen, und morgen verordnest du Maul halten! Du raunst heute: Nie mit der da, die kann's nicht - und morgen schmeichelst du: Die wird's schon können, ich kann mit ihr. Du! Du bist Stoiber. Du willst vorn sein, aber du haust ab, wenn du nicht ganz vorn bist. Du wirfst dich in die Brust als Retter des Vaterlands, und dann fragt das Vaterland, ob du noch zu retten bist. Du spottest heute über die Machtlosigkeit einer Mächtigen, und morgen bist du selbst machtlos und ihr Gespött. Du!
Um dich zu packen, braucht es Bilder und Texte, dass du erschrickst. Erbleichst. Und dir der Schrei im Halse stecken bleibt
Du bist Schröder. Du verachtest die Autokratie, aber du liebst den Autokraten. Dir schwindelt, wenn es im Slalom geht, aber du fürchtest dich vor der Schussfahrt. Du bist hingerissen, wenn er einer Frau im Wahlkampf seine Liebe schmalzt, aber du bist entsetzt, wenn er eine andere am Wahlabend demütigt - und kapierst nicht, dass beides nur Spiel mit der Frau ist. Du strafst seine Partei für eine Politik, die sie selbst nicht gestalten durfte, aber du seifst ihn in Sympathie, obgleich er die Politik oktroyiert hat. Du bist lächelnd brutal und tränenselig sentimental. Distel und Veilchen - so deutsch. Wie er. Du! Du bist Wulff. Du vergötterst Loyalität und verehrst den Illoyalen. Du gierst nach einem revolutionären Steuersystem und zerrst den Revolutionär aufs Schafott zur öffentlichen Hinrichtung - hoppla! Du sitzt beim Koalitionspoker leise am Tisch und ziehst vor der Tür lärmend über Falschspieler her. Du bist immer dabei und nie dabei. Du!
Du bist Seehofer. Du plakatierst, du hättest gelernt, aber du bist unbelehrbar. Du sagst, du folgtest nur deiner Überzeugung, aber du redest allen nach dem Munde. Du inszenierst den Mut, aber du spielst die Feigheit. Du predigst Treue, aber du schlemmst Verrat. Du!

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
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Du bist Engelen-Kefer. Du weißt, wie gestrig die Gewerkschaften von heute sind - und doch blockierst du heute die von morgen. Du erkennst, wie viele Jobs der Dogmatismus kostet - doch bis zum Letzten verteidigst du die allerletzten Jobs: die der Dogmatiker. Du! Du bist Hundt! Du beschreist die Mutlosigkeit der Politik, aber du hast selbst noch nie Mut bewiesen. Du jammerst über deutsche Kartelle, aber du kannst nicht leben ohne das Arbeitgeberkartell mit den Gewerkschaften. Du verlangst Opferbereitschaft, aber du bist unersättlich. Du bedrängst die Politik, aber es ist dir schnuppe, dass sie das letzte Vertrauen verliert, wenn sie sich dir hingibt. Du!
Erschrick! Erbleiche! Über dich selbst. Aber halt die Klappe, Deutschland. Lass sie's versuchen. Entscheide dich, wenn du's anders willst. Wähl anders, wenn du's besser willst. Du hast es besser verdient, aber nicht anders gewollt. Du bist das Problem. Und du bist die Lösung. Nur du.