Bhopal Der lautlose Massentod

Als kurz nach Mitternacht am 3. Dezember 1984 eine Giftgaswolke über die Ghettos von Bhopal zieht, ersticken über 20.000 Menschen qualvoll. Tausende leiden noch heute an den Folgen des größten Industrieunglücks der Geschichte.

Kurz nach Mitternacht am 3. Dezember 1984 zieht die Giftgaswolke lautlos über die Menschen Bhopals hinweg. Die Armen aus den Elendsvierteln neben der Pestizidfabrik tötet das Gas zuerst. Tausende Menschen ersticken in jener Nacht - und bis heute geht das Sterben in der zentralindischen Stadt weiter. Hunderttausende leiden immer noch unter den Folgen der größten Industriekatastrophe der Geschichte. Die mageren Entschädigungen sind zwanzig Jahre später noch nicht vollständig ausgezahlt. Und noch immer wird darüber gestritten, wer die Chemie-Altlasten aus der Katastrophen-Fabrik beseitigt, die in Bhopal weiter für Unheil sorgen.

"Schaum vorm Mund"

"Plötzlich hatte ich das Gefühl, als hätte ich rote Chillies in den Augen", erinnert sich V. Dharam an die Schreckensnacht. "Wir mussten uns übergeben und hatten Schaum vorm Mund, wir rannten raus." Weder Dharam noch seine Frau, noch Hunderttausende andere wissen, was passiert ist. Sie ahnen nicht, dass sie mit jedem Atemzug das Gas einatmen. Bald darauf liegen zahllose Leichen auf den Straßen. In den Krankenhäusern versuchen verzweifelte Ärzte, die flehenden Menschen vor dem qualvollen Tod zu retten - oft vergeblich.

Dharam hat nach der Katastrophe wieder geheiratet, mit seiner Frau und seinen zwei Kindern wohnt er in einer 15-Quadratmeter-Wohnung in der "Kolonie der Gasopfer" am Stadtrand. Wie so viele Überlebende leidet der 50-Jährige unter Atemnot und Augenproblemen. Seine Arbeit in einer Fabrik hat er deswegen längst verloren, seine neue Familie bringt er mit Gelegenheitsjobs durch. Manchmal, so erzählt der schmächtige Mann mit den wirren weißen Haaren und den zittrigen Händen, kann er Luftballons verkaufen. Die armselige Wohnung und umgerechnet rund 4000 Euro hat Dharam Jahre später als Entschädigung dafür bekommen, dass ihm das Gas seine erste Familie raubte. "Aber was nützt mir das Geld", sagt er. "Ich habe meine Frau und mein Kind verloren."

15 000 Todesfälle sind im Zusammenhang mit dem Giftgas offiziell verzeichnet, Hilfsorganisationen schätzen dagegen, dass insgesamt zwischen 20 000 und 30 000 Menschen ums Leben kamen. Über einer halben Million Menschen - mehr als der Hälfte der damaligen Einwohner Bhopals - haben die Gerichte Entschädigungen zugesprochen, weil sie verletzt wurden. Auch Dharam verliert seine Ehefrau und seinen erst eineinhalb Jahre alten Sohn. Er selber überlebt knapp - und leidet bis heute unter den Folgen des Giftgases.

Stolz der Stadt

Die Pestizidfabrik, aus der der Tod gekommen war, war bis dahin der Stolz der Stadt. Wer in der mehrheitlich dem US-Chemiekonzern Union Carbide gehörenden Anlage arbeitete, der hatte es zu etwas gebracht. Am Abend der Katastrophe gerät Wasser in einen Tank mit hochgiftigem Methyl- Isocyanat (MIC), Giftgas entsteht und entweicht ins Freie. Union Carbide sagt bis heute, es habe sich um Sabotage gehandelt. Frühere Angestellte widersprechen dem vehement. Sie sagen, Fahrlässigkeit habe die Katastrophe ausgelöst. Kein einziges der Sicherungssysteme habe damals funktioniert.

Auf 470 Millionen US-Dollar Entschädigung hat sich die indische Regierung 1989 mit Union Carbide geeinigt. "Das war totaler Betrug", sagt Satinath Sarangi, der nach der Katastrophe als Student nach Bhopal kam, um zu helfen, und seitdem sein Leben den Opfern widmet. Die Regierung habe ausländische Konzerne nicht abschrecken wollen und deswegen "die Opfer ausverkauft". In der Regel gab es bislang umgerechnet rund 500 Euro für Geschädigte und 2000 Euro pro Todesfall, der gleiche Betrag soll nun noch einmal gezahlt werden. Im kommenden Mai - mehr als zwei Jahrzehnte nach der Katastrophe - soll die Auszahlung abgeschlossen sein.

Kurz nach der Katastrophe wurde die Fabrik stillgelegt. Noch heute ragt der Turm der Pestizidfabrik in den strahlend blauen Himmel Bhopals. Die Anlage ist nie vollständig abgebaut worden, das verseuchte Gelände wurde nie saniert. Kinder spielen dort Kricket, Frauen sammeln Brennholz, Kühe suchen nach Futter. Der Bundesstaat Madhya Pradesh, dem das Areal inzwischen gehört, und der Konzern Dow Chemical, der Union Carbide übernommen hat, streiten immer noch darüber, wer die Altlasten beseitigen soll. Leidtragende sind wieder die Armen, die nahe der Industrieruine wohnen.

"Kein Trinkwasser" steht auf Warnschildern an den rot markierten Pumpen. Doch das saubere Wasser aus den Tanklastern der Stadt reicht nicht aus, fließend Wasser gab es hier noch nie, und so bleibt den Slumbewohnern - darunter viele Kleinkinder, den Langzeitschäden drohen - keine andere Wahl, als das potenziell giftige Nass aus dem verseuchten Boden zu trinken. Inzwischen behandeln die Ärzte in Bhopal nicht nur Gas-, sondern auch Wasseropfer.

"Hundert Tonnen Chemieabfälle"

"Auf dem Gelände liegen noch ein paar Hundert Tonnen Chemieabfälle", sagte Professor Harald Burmeier in einem dpa-Gespräch in Neu Delhi. Sie gefährdeten die Menschen, die sich trotz Verbots auf dem Areal aufhielten. "Der Direktkontakt alleine bereitet schon Probleme", sagte Burmeier, der im Auftrag von Greenpeace gemeinsam mit anderen internationalen Experten Empfehlungen für eine Standort-Sanierung erarbeitete. Die Abfälle müssten gesammelt und entsorgt werden. Außerdem sei der Boden mit Schadstoffen belastet, die durch den Regen in tiefere Erdschichten und dann ins Grundwasser gespült würden.

Rund 27 000 Tonnen Boden müssten von Schadstoffen gereinigt werden, sagte Burmeier. Die dabei herausgefilterten geschätzten 1500 bis 4000 Tonnen Schadstoffe könnten per Bahn und Schiff ins Ausland gebracht und dort in geeigneten Anlagen behandelt werden. Das dürfte etwa vier Jahre dauern. Für die Grundwasserbehandlung sei dagegen "im Minimum erst mal zehn Jahre anzusetzen, wenn wir realistisch sein wollen, kommen schnell 25 Jahre dabei heraus". Die Gesamtkosten für die Sanierung schätzen die Experten, die ihre Empfehlungen dem indischen Verfassungsgericht vorlegten, auf 25 bis 30 Millionen US- Dollar (18,8 bis 22,6 Millionen Euro).

Als "Sofortmaßnahmen" empfahlen sie, Gegenden mit verseuchtem Grundwasser besser als bislang mit Frischwasser zu versorgen und Brunnen an belasteten Standorten zu versiegeln. Auch dürfe niemand mehr auf das Fabrikgelände gehen können. "Man muss verhindern, dass Kinder auf diesem Standort spielen", sagte Burmeier. Bewohner der angrenzenden Elendsviertel nutzen das Areal auch als Weidegrund für Vieh und sammeln dort Brennholz.

DPA
Can Merey/DPA