Antwerpen Alte Mauern, heißes Pflaster

In aller Stille werden Diamanten geschliffen, in aller Schrille wird Mode gemacht. Antwerpen lebt von Kontrasten - spannend mischen sich in der belgischen Hafenstadt Alt und Neu.

Ausgerechnet ein Pfarrer. Kann eine Geschichte über eine Szenestadt mit einem Mann Gottes beginnen? Rudi Mannaerts ist Vorsteher der Antwerpener St-Andrieskerk. Ein treuer Diener des Herrn. Eigentlich. Ließ nicht seine Sonnenbrille stutzen, der etwas lange Haarschopf und vor allem das Schild an seinem Gottesbau: "In dieser katholischen Kirche kannst Du Deinem Schöpfer huldigen, dem Komponisten des Universums. Tatsächlich ist der, den wir Gott nennen, der DJ des Lebens." Ein Musikmischer also, der Herrgott. "Es gab vor einigen Jahren den Song "God Is A DJ", und ich fand, das ist doch die Botschaft der Kirche seit tausend Jahren - nur in heutiger Sprache", sagt Mannaerts. "Klar, ein wenig verrückt, aber die Leute hier in Antwerpen mögen so was."

Antwerpen ist Belgiens zweitgrößte Stadt, Europas zweitgrößter Hafen, und spätestens seit den Achtzigern, als belgische Designer bei der London Fashion Week abräumten, ein Trendlabor für Edelschneider. Vor allem aber: Antwerpen ist ein paar Tage wert. Es gibt eine Altstadt samt schnuckeliger Plätze und Gassen, schräger Läden, herrlicher Kirchen, Dutzender Museen, Hunderter Restaurants. Und eben einen ganzen Haufen verrückter Typen wie diesen Rudi Mannaerts. Als Mannaerts vor sieben Jahren die Pfarrei übernahm, steckte St-Andries in der Krise. Verwaiste Messen. Muffige Stimmung. Kein Nachwuchs auf den Bänken. Mannaerts beschloss, frische Luft ins Haus des Herrn zu lassen. Die Modernisierung der katholischen Kirche, Zweigstelle Antwerpen, wurde fortan sein Thema. Er ließ die Topdesignerin der Stadt, Ann Demeulemeester, ein neues Kleid für eine Marienfigur aus dem 15. Jahrhundert schneidern, über die Orgel ein Bild hängen, auf dem Gott eine CD auf den Nordpol legt, und seinen kirchlichen Arbeitsplatz zu besonderen Anlässen schon mal in Rot ausleuchten.

170 Jahre werkelten Steinmetze, Maurer und Zimmerleute an der Kirche

Tatsächlich ist Antwerpen nicht nur mit Typen wie Mannaerts gesegnet, sondern auch mit Prachtbauten. Jahrhundertelang spülte der Hafen reichlich Gold in die Säckel der Stadt. Segelschiffe löschten Seide, Früchte und Gewürze an den Kais der Schelde. Auch ihren Namen, so zumindest eine Theorie, hat die Stadt vom Strom. "Aan de werpen" heißt zu Deutsch "auf der Warft". Und selbst die über 200-jährige Blockade der Schelde nach dem Westfälischen Frieden 1648 setzte der Stadt zwar zu, doch als Antwerpen 1863 wieder volle Kontrolle über die Schelde erlangte, kamen Schiffe und Reichtum zurück. Gerade so, als sei die Fremdherrschaft von Spaniern und Franzosen nur ein böser Traum gewesen. Die Docks und Kais wurden ausgebaut. Um die größer werdenden Schiffe abfertigen zu können, verlegten die Antwerpener im 20. Jahrhundert die Anlagen weiter zur Scheldemündung nach Norden. So ist heute vom Hafen selbst nur noch wenig zu sehen. In seinem ehemaligen Zentrum "’t Eilandje" sind Werbeagenturen, Designerhotels und Kneipen in die verwaisten Kaianlagen und Lagerhallen gezogen, und wer will, kann zum Beispiel im Restaurant "Het Pomphuis" über den ausrangierten Pumpen dinieren, die einst die Trockendocks leerten.

Geblieben aber sind die mit den Handelsgeldern finanzierten Kirchen: die gotische St-Andries von Pfarrer Mannaerts, die barocke St-Carolus Borremeus der Jesuiten und natürlich die Kathedrale mit ihrem 123 Meter hohen Turm mitten in der Altstadt. 170 Jahre lang werkelten Steinmetze, Maurer und Zimmerleute an der Kirche. Am ganzen Bau prangen Ornamente und Säulchen. So üppig, dass Vollender Kaiser Karl V. anno 1521 meinte, der Turm habe einen großen Fehler - er sei einfach zu schön und gehöre eigentlich an normalen Tagen verhüllt. Nur ein paar Straßen von der Kathedrale entfernt steht die Pauluskirche. Außen eher unscheinbar, protzt sie drinnen mit filigranen Schnitzereien, über 200 Figuren und Dutzenden riesiger Gemälde. Als der Bau 1968 durch einen Blitz Feuer fing, schleppten die Menschen aus der Nachbarschaft eine Nacht lang die riesigen Gemälde hinaus in Sicherheit. Selbst die Transvestiten aus den nahen Bordellen packten mit an. Ihre Schminke allerdings, so berichten Zeugen, löste sich im Schweiß auf. Am Ende der Nacht waren aus falschen Frauen wieder echte Kerle geworden und die Gemälde von Rubens gerettet.

Die Verbindung von Kalkül und Kunst, von Extravaganz und Alltag

Rubens, auch er so ein verrückter Sohn dieser Stadt. Fast an allen Kirchenausstattungen war er mehr oder minder beteiligt, kaum ein Altar in Antwerpen ohne seine wohlgenährten Nackedeis. Von Italien inspiriert, ließ sich der Künstler in der Stadt einen Palazzo samt Portikus und Garten bauen. Nachdem die Gesellschaft der Stadt über den Spleen ihres Hauskünstlers zunächst die Nase gerümpft hatte, wurde seine Heimstatt bald zur Attraktion. Dass er dort 1630 mit 53 Jahren eine 16-Jährige ehelichte, störte am Ende keinen mehr. Heute ist sein Haus eines der schönsten Museen an der Schelde. Doch Antwerpen lockt nicht nur mit der Kunst von gestern. Es scheint vielmehr, als strebten die Bewohner der Stadt jeden Tag danach, Schönes, Verrücktes, Edles zu schaffen. Im jüdischen Viertel rund um den Hauptbahnhof erhalten Diamanten ihren letzten Schliff (trotz Konkurrenz aus Indien ist Antwerpen immer noch Handelsplatz Nummer eins), allerorten gibt es Galerien und Ateliers. Und wer die Gassen entlangschlendert, kann schon mal in ein Schaufenster blicken, hinter dem ein Maler sitzt und eben - malt.

Kiddo Belly etwa, der in seinem Atelierladen gerade die ersten Striche auf eine Leinwand setzt. Eigentlich ist der 56-Jährige Klempner, aber seit ihm der Arzt vor ein paar Jahren nach massiven Herzproblemen die Rohrzange verboten hat, greift er zum Pinsel. So sitzt er jeden Tag hinter seinem Schaufenster in der Kipdorpstraat, auf dem Kopf eine Melone, die Klamotten voller Farbe, und lässt seinen Gedanken ihren farbigen Lauf. "Das ist das Tolle hier in Antwerpen: Keiner hält mich für einen Schwachkopf, weil ich angefangen habe zu malen", sagt Belly. Manchmal schläft er auch auf einer Matratze im Atelier, "damit ich gleich loslegen kann, wenn ich eine Inspiration habe". Seine Ehe ging darüber zu Bruch, aber ein verträumter Flaneur ist er nicht. Ganz flämischer Handelsmann, lässt er seine Gemälde von einem Kompagnon für mehrere Hundert bis Tausend Euro verkaufen. Ja, vielleicht ist das gerade der Charme dieser Stadt. Die Verbindung von Kalkül und Kunst, von Extravaganz und Alltag. Kaum etwas scheint aufgesetzt. Die Straßenbahnen, die über die Schienen quietschen, sind keine Touristenattraktion, sondern eben Nahverkehrsmittel mit Kindern, Rentnern, Arbeitern. Vor dem Geschäft des Modedesigners Walter Van Beirendonck, das mehr an ein gestyltes Parkhausdeck erinnert als einen Kleiderladen, tragen Omas ihre Einkaufstaschen gemächlich nach Hause.

"Wo sonst finde ich so viele Verrückte auf einem Haufen?"

Jüdische Metzger verkaufen koscheres Fleisch, einige Süßwarenläden Penisse aus Schokolade. Selbst im trendigsten Erwerbszweig der Stadt, der Mode, ist man erstaunlich bodenständig. Die Designhochschule gehört zu den besten der Welt. Es gibt ein Modemuseum. In der Nationalestraat reiht sich eine Boutique an die andere. Und doch ist die Schneiderei in Antwerpen vor allem eins: solides Handwerk. "Die Antwerpener sind zwar Genussmenschen mit Sinn für Essen und Kleidung, wollen aber auch, dass man die Arbeit ordentlich macht", sagt Stephan Schneider. Schneider, geborener Duisburger, hat 1994 die Akademie abgeschlossen. Einer von nur acht Absolventen des Jahrgangs - begonnen hatten über 200. Gleich anschließend eröffnete er seinen eigenen Laden in der Reyndersstraat. Seitdem hat sich der heute 38-Jährige auf den Laufstegen etabliert und präsentiert seine Kollektionen nicht nur in Paris und Mailand, er verkauft sie auch in Edelkaufhäusern auf der ganzen Welt. "Klar könnte ich heute auch woanders leben, aber hier in Antwerpen kommt man einfach auf gute Ideen", sagt Schneider. "Wo sonst finde ich so viele Verrückte auf einem Haufen?"

Von der Kathedrale ins Szeneviertel
Kleine Bistro-Tische, hölzerne Bierkisten als
Trennelemente und eine hervorragende Küche.
Brasserie Appelmans, Papenstraatje 1,
Tel.: 226 20 22, www.brasserieappelmans.be
Traditionelle Küche mit modernen Einschlägen,
nahe der Kathedrale.
Einkaufen
Die meisten Designer haben sich in der
Nationalestraat und deren Nebenstraßen südlich
der Altstadt angesiedelt, zum Beispiel:
Walter Von Beirendonck, St-Antoniusstraat 12;
Dries Van Noten, Nationalestraat 16;
Stephan Schneider, Reyndersstraat 53
Highlights
Antwerpen erkundet man am besten zu Fuß,
die Altstadt ist überschaubar, die schönsten
Kirchen (Kathedrale, St-Jakobskerk, St-Pauluskerk,
St-Carolus Borremeus, St-Andries) sind
nur ein paar Minuten voneinander entfernt.
Rubenshaus, Wapper 9-11, ehemaliges
Wohn- und Atelierhaus von Peter Paul Rubens,
www.museum.antwerpen.be/rubenshuis
Südlich der Altstadt liegt das Szeneviertel
"Het Zuid" mit zahlreichen Cafés, Restaurants
und vor allem Modeläden. Wer sehen will,
wie Diamanten geschliffen werden, kann dies
nach Anmeldung bei Krochmal & Lieber tun
(Lange Herentalsestraat 29, Tel.: 233 21 69,
www.krochmal-lieber.com). Etwas abseits
vom Zentrum, im Stadtteil Zurenborg, haben
reiche Antwerpener zu Beginn des 20. Jh.
Villen in wildem Stilmix gebaut (Cogels
Osyleistraat).
Reiseführer
Dumont direkt Flandern-Antwerpen, Brügge,
Gent, 7,95 Euro
Auskunft
Tourismus Flandern-Brüssel, Cäcilienstraße 46,
50667 Köln, Tel.: 0221/270 97 70,
www.flandern.com, www.antwerpen.be
Anreise
Von Brüssel aus fahren Züge im Halbstundentakt
nach Antwerpen.
Fahrtdauer: etwa 45 Minuten
Telefonvorwahl: 0032/3
Unterkunft
Antwerpen hat viele gemütliche Hotels und
Bed & Breakfast-Zimmer, oft in renovierten
Häusern in der Altstadt.
➊ Hotel De Witte Lelie, Keizerstraat 16-18,
Tel.: 226 19 66, www.dewittelelie.be. Wohl das
schönste Hotel der Stadt. 10 Zimmer und Suiten
in Weiß in einem Giebelhaus aus dem 17. Jh.,
DZ ab 280 Euro. ➋ Hotel Prinse, Keizerstraat
63, Tel.: 226 40 50, www.hotelprinse.be
Ebenfalls in einem renovierten Altbau - nur
schlichter und günstiger. Kostenloser kabelfreier
Internetzugang, DZ ab 122 Euro. ➌ Bed
& Breakfast Charles Rogier XI, Karel Rogierstraat
11, Tel.: 475 29 99 89,
rogierxi.be">www.charles
rogierxi.be. Drei Zimmer, gemütlich vollgestopft
mit Antiquitäten, Himmelbetten und frei stehenden
Badewannen. Nichts für Minimalisten,
DZ 200 Euro. ➍ Bed & Breakfast La Remissa,
Lamorinièrestraat 127, Tel.: 286 70 98,
larimessa.be">www.larimessa.be. Danielle De Rede und ihr Mann
haben die Dachetage ihres Hauses zu einer fantastischen
Suite umgebaut; vom Balkon blickt
man über grüne Gärten. Für Flitterwöchner
gibt's Champagnerfrühstück und Rosenblätter
auf der Treppe, DZ 150 Euro.
Essen + Trinken
Neben den obligatorischen Pommesbuden
locken allein in der Altstadt mehrere Hundert
Restaurants. Meist etwas teurer als in
Deutschland, aber dafür gemütlich.
Het Pomphuis, Siberiastraat, Tel.: 770 86 25,
www.hetpomphuis.be. Ein altes Pumpwerk
mit Blick auf die ehemaligen Hafenanlagen.
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