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Hamburg Backstage Clubkultur in Krisenzeiten: "Die Handbremse ist noch angezogen"

Besucher des Festival Village stehen beim Reeperbahn Festivals im September 2020 in aufgesprühten Quadraten, um genügend Abstand zueinander zu wahren.
Besucher des Festival Village stehen beim Reeperbahn Festivals im September 2020 in aufgesprühten Quadraten, um genügend Abstand zueinander zu wahren.
© Fynn Freund
Seit der Corona-Pandemie herrscht in Hamburgs Gassen ein temporärer Stillstand. Experten, Veranstalter und Kulturschaffende zeigen auf, wie Hamburgs kulturelles Nachtleben trotz der aktuellen Situation wieder bunter werden kann.  
Von Alexa Heyn und Cornelia Bertram

Das Thermometer der Apotheke am Paulinenplatz zeigt knapp unter null Grad, der Atem kondensiert vor dem Gesicht und verschwindet als Wolke in der Dunkelheit. Trotz der kalten Jahreszeit wären Hamburgs Plätze und Straßen an einem Freitagabend voll von Einheimischen und Touristen gewesen. Normalerweise. Doch seit März 2020 ist alles anders. Die sonst fröhlich blinkenden Lichter der Clubs und Bars sind erloschen. Hier feiert niemand mehr.  

Für die Veranstaltenden bedeutet das konkret: Umsatzeinbrüche von rund 90 Prozent, Schulden und der Verlust von etlichen Arbeitsplätzen. Von Tontechnikern über Barpersonal bis hin zu Musikern trifft es vor allem die vielen Solo-Selbstständigen hart. Unter ihnen auch die des Molotow Clubs auf der Reeperbahn. "Im März mussten wir unserem ganzen Team kündigen das auf 450 Euro Basis eingestellt war", erzählt Fenja Möller, Veranstalterin des Molotow. Knapp 15 bis 20 Personen, die normalerweise für Aufgaben an der Garderobe oder dem Tresen zuständig waren, konnte der Club nicht halten.  

"Wir haben versucht, diejenigen weiter zu bezahlen, von denen wir wussten, dass dies deren einziges Einkommen war – dem Rest mussten wir kündigen. Um den Club am Leben zu halten, blieb uns nichts anderes übrig." Und auch für den Rest der Belegschaft könnte die finanzielle Situation eine bessere sein: Kurzarbeit statt langer Nächte im Club. 

Kreativität und Kuration ist gefragt  

Im Sommer dann aber ein Lichtblick: Dank Förderungen und großem Garten konnten rund 24 Konzerte unter pandemiegerechten Bedingungen stattfinden. Im Sitzen, mit Abstand, Maske und Plexiglas zwischen einzelnen Gruppen. Pfeile auf dem Boden markierten den Weg zwischen den Bierzeltgarnituren. An den Türen standen Desinfektionsspender, und regelmäßig kontrollierte das aufmerksame Personal die Einhaltung aller Corona-Regeln: Die Gruppen blieben stets unter sich und verließen die Tische nur mit Maske.

Uebel und Gefährlich.
Auf der Bühne im Bunker: Auftritt des Sängers Oliver Garland und seine Band Koko aus Großbritannien im Uebel und Gefährlich.
© Georg Wendt / DPA

Es herrschte striktes Tanzverbot. Und doch: Aus den Boxen dröhnte die Unbeschwertheit der Musik, die den spätsommerlichen Hof mit ihren Klängen erfüllte und so sowohl Besuchern als auch Veranstaltern, Barpersonal und Co. zumindest für einen kurzen Moment ein Stück Normalität zurückgab.  

Kostendeckend veranstalten  

Auch der Südpol in Hammerbrook hatte die Möglichkeit, auf einen Außenbereich auszuweichen. Die Verantwortlichen des kollektiv organisierten Kulturzentrums beschlossen, ihren Hof ab Juli unter Einhaltung der strengen Regeln zu öffnen. Mehrmals pro Woche lud der Südpol über den Sommer mit Bar, Bingo, Tischtennis und Kino auf einen Sekt mit Mate ein. "Wir hatten Lust, kreativ zu werden, aber wir haben auch gemerkt, dass wir es müssen", erklärt Hark Empen, einer der Verantwortlichen.   

Hinter den Kulissen von Hamburgs Clubszene

Die finanzielle Unterstützung von Stadt und Land half bisher dabei, die laufenden Kosten zu decken. Parallel veranstaltete das Kollektiv kleinere Veranstaltungen, die gerade so kostendeckend waren. Damit sollten vor allem die vielen Beteiligten unterstützt werden, die normalerweise im Südpol arbeiten und durch die Coronakrise so auf den Großteil ihrer Einnahmen verzichten mussten. "Man muss in den Clubs eine hohe Auslastung haben, um die Kosten überhaupt zu decken. Ohne fortlaufende Unterstützung funktioniert das momentan gar nicht", betont Empen. Besonders stolz sind die Betreibenden des Club-Kollektivs darauf, auch ohne kommerzielles Sponsoring überleben zu können.  

Die Finanzhilfen seitens der Politik hielten in Hamburg einige Clubs am Leben. 2020 wurden insgesamt 43 Orte für Indoor-Veranstaltungen gefördert. 29 Institutionen erhielten zudem Gelder für Veranstaltungen im Außenbereich. "Die Clubs, die 2020 Open Airs veranstaltet haben, bekommen eine Zahlung obendrauf, damit sich der Aufwand trotz der deutlich geringeren Auslastung lohnt", erklärt der Pressesprecher der Hamburger Kulturbehörde, Enno Isermann. Gemeinsam mit dem Clubkombinat, einer Interessenvertretung der Hamburger Clubbetreiber, entwickelte die Behörde Hilfsprogramme, um den Bedarf der Gelder mit den einzelnen Institutionen individuell abstimmen zu können. "Es ging uns vor allem darum, dabei zu helfen, dass Kultur wieder produziert werden konnte", betont Isermann. 

Veranstaltungen können sichere Orte sein  

Neben kleineren Sitz-Veranstaltungen wurden im vergangenen Jahr auch andere Veranstaltungsmöglichkeiten erprobt. Das im September stattfindende Reeperbahn Festival bewies etwa, dass Veranstaltungen unter akribischer Berücksichtigung und Einhaltung der Corona-Regeln und mit der Möglichkeit der personalisierten Nachverfolgung keine unsicheren Orte sind. "Wir konnten deutlich bessere und stringentere Abstand- und Hygieneregeln vorweisen als in anderen Lebensbereichen", erklärt Veranstalter Alexander Schulz.  

Alexander Schulz, Gründer und Geschäftsführer des Hamburger Reeperbahn-Festivals, und die Moderatorin Hadnet Tesfai bei der Eröffnung des Reeperbahn Festivals 2020 im Operettenhaus. 
Alexander Schulz, Gründer und Geschäftsführer des Hamburger Reeperbahn-Festivals, und die Moderatorin Hadnet Tesfai bei der Eröffnung des Reeperbahn Festivals 2020 im Operettenhaus. 
© Christian Charisius / Picture Alliance

Mit circa 8000 Personen wurden zwar nicht annähernd die üblichen Besucherzahlen von rund 50.000 erreicht, aber zumindest durfte veranstaltet werden. Zusammen mit der Politik wurde bereits Ende Mai letzten Jahres mündlich vereinbart, das Fest unter besonderen Bedingungen stattfinden zu lassen.

Diese privilegierte Stellung sollte jedoch auch anderen Betreibenden zugutekommen. Denn das Festival galt als eine Art Testversuch. "Wir wollten herausfinden, wie Veranstaltungen pandemiegerecht stattfinden können. Der Fokus richtete sich bei der Planung vor allem darauf, für jede einzelne Spielstätte nachhaltige Durchführungskonzepte zu erstellen", erklärt der Festival-Chef.  

Reeperbahn Festival 2020: Mit den richtigen Vorkehrungen konnten Bands wieder auftreten.
Reeperbahn Festival 2020: Mit den richtigen Vorkehrungen konnten Bands wieder auftreten.
© Tom Heinke

2021 soll das Festival erneut stattfinden. "Wir planen aktuell mit einer Auslastung von bis zu 40 Prozent der normalen Kapazität, stimmen uns aber wie bereits im vergangenen Jahr eng mit den zuständigen Behörden ab, um diese entsprechend der Dynamik des Infektionsgeschehens anzupassen”, so Schulz.  

Die Ressourcen nutzen

Der Veranstalter, DJ und Producer Mikah, ist ebenfalls davon überzeugt, dass die Ansätze aus dem letzten Jahr im Sommer 2021 ausgeweitet werden können. "In Hamburg gibt es viele große Locations, die für Veranstaltungen unter Corona-konformen Bedingungen genutzt werden können", erklärt der Musiker. Er hofft darauf, dass die Stadt in den kommenden Monaten noch größere Flächen für Veranstaltungszwecke freigibt. "Dann wären innerhalb der geltenden Auflagen sicherlich noch ganz andere Veranstaltungen möglich. Ich bin der Meinung, dass auch Konzepte ohne ein Tanzverbot vertretbar sein können." In Hinblick auf die Virusmutationen sowie die langsam voranschreitenden Impfungen müssen diese Konzepte natürlich passend zum Infektionsgeschehen in den kommenden Monaten abgewogen werden. 

Wichtig sei aber auch zu bedenken, was nach dem Sommer passiert. "In den Clubs muss man nach Faktoren wie der Belüftung schauen und ausprobieren, ob Veranstaltungen unter den Vorgaben möglich sind", betont der Veranstalter. Clubs wie das Übel und Gefährlich oder PAL haben in den vergangenen Monaten ihre finanziellen Unterstützungen unter anderem dafür genutzt, ihre Räumlichkeiten auszubauen – auch flächendeckende Lüftungsanlagen wurden installiert. 

Die Solidarität gibt Hoffnung 

 Wenn die Corona-Krise eines gezeigt hat, dann ist es die große Solidarität, die innerhalb der Szene herrscht. Viele Veranstalter nutzten beispielsweise das Hamburger Clubkombinat als Kommunikationsmedium: "Hier konnten wir uns austauschen, und man hat versucht, sich untereinander zu helfen", erklärt Fenja Möller. Konkret bedeutete dies für die Clubs, sich gemeinsam durch die Fördergelder-Anträge durchzuarbeiten, Hygienekonzepte auszutauschen und über die aktuellen Statements der Politik zu diskutieren. 

Voodoo Jürgens aus Österreich hat mit weiteren Musikern im Rahmen des Reeperbahn Festivals einen Auftritt im Grünspan.
Voodoo Jürgens aus Österreich hat mit weiteren Musikern im Rahmen des Reeperbahn Festivals einen Auftritt im Grünspan.
© Georg Wendt / DPA

Besonders deutlich wurde die Solidarität auch durch die Vielzahl an Spenden, die innerhalb der ersten Pandemie-Monate über Crowdfunding gesammelt werden konnten. Der Südpol konnte auf diesem Weg über 100.000 Euro sammeln und so das Fortbestehen des Clubs vorerst sichern. "Wir haben insgesamt sehr viel Solidarität erfahren. Sowohl in der Clubszene als auch von Menschen, die dem Projekt nahestehen oder mit uns arbeiten", berichtet Empen.   

Dieses Standing nutze das Kollektiv nicht nur für sein eigenes Überleben, sondern half mit dem Geld auch befreundeten Künstlerinnen. Zudem spendete der Südpol zehn Prozent der Einnahmen an gemeinnützige Organisationen. "Wir sind sehr froh, die Kampagne so aufgezogen zu haben, weil man dann vielleicht auch weiter davon ausgehen kann, Solidarität zu erfahren", betont Hark. 

Was wirklich fehlt, ist die emotionale Bezahlung  

 Der Erfolg des Crowdfundings und die Finanzhilfen des Staates geben in diesen schweren Zeiten Hoffnung. Was jedoch mit Geld nicht kompensiert werden kann, ist das fehlende emotionale Erlebnis vor Ort.  "Viele Menschen, die in der Live-Branche oder im Club arbeiten, machen das aus Leidenschaft und Liebe zur Sache", erklärt Fenja Möller. Das Arbeiten in einem großen, diversen Team, der Dank der auftretenden Bands und das positive Feedback der Feiernden – all das vermisse sie sehr. "Es gibt einem so viel: Man lernt wundervolle Menschen kennen und hat schöne Momente – die fehlen gerade komplett."  

Fast alle Beteiligten vermissen den kulturellen Austausch in einem unbeschwerten, nicht virtuellen Raum. Aktuell steht und fällt alles mit den Covid-19-Infektionszahlen. Doch bald wird die Frage aufkommen, wie und wann erste kulturelle Veranstaltungen wieder stattfinden können. "Wir würden uns wünschen, dass das Hamburger Tanzverbot diesen Sommer aufgehoben wird. Denn gerade draußen lässt es sich mit Abstand tanzen – auch Corona-konform", betont Hark Empen.  

Passend dazu wurde dem Südpol Mitte Februar 2021 ein Antrag für die Finanzierung eines Bauvorhabens im Außenbereich des Clubs genehmigt. Seitdem sind die Beteiligten damit beschäftigt, das Gelände für den kommenden Sommer auszubauen und zu gestalten. Ein neuer, flexibler Zaun sowie die öffentlichen Komposttoiletten können auch langfristig für Veranstaltungen genutzt werden und so das Tanzen auf einem wohl noch größeren Außenbereich ermöglichen. 

Molotow Club: Der Hof machte einen musikalischen Sommer möglich.
Molotow Club: Der Hof machte einen musikalischen Sommer möglich.
© Charles Engelken

Auch SUZé wünscht sich ein Ende des Tanzverbots. Einen Teil ihres Sommers durfte die Hamburger DJ hinter dem Pult mit Auflegen verbringen. "Ich hatte unglaubliches Glück, auch vor Publikum spielen zu dürfen, dank aller Beteiligten, die einfach tolle Veranstaltungen samt Hygienekonzept auf die Beine gestellt haben", berichtet die Musikerin. Die DJ legt seit 2016 in Hamburg auf und hat sich mittlerweile in der Clublandschaft der Hansestadt etabliert. Die Sitzveranstaltungen sind für sie mit den Partys vor Beginn der Pandemie nicht zu vergleichen. "Man hat einfach gemerkt, dass die Leute mega Lust hatten zu tanzen, aber nicht durften", erklärt SUZé.  

Die Förderung muss weitergehen  

Selbst wenn im kommenden Sommer das Tanzen wieder möglich ist, über eines ist man sich in der Clubszene einig: Die Förderung muss weitergehen. "Wir haben deutlich gemacht, dass pandemiegerechte Umsetzungen von Veranstaltungen einen erheblichen Unterstützungsbedarf der öffentlichen Hand benötigen", erklärt Alexander Schulz. Ein Faktor dabei seien die Veranstaltungsbesucher selbst – das Besuchermanagement werde sich nämlich mit der Pandemieerfahrung ändern, erklärt Schulz: "Entweder werden die Leute super vorsichtig oder sie sind so ausgehungert, dass sie sich auf alles stürzen, was angeboten wird." Beide Verhaltensweisen erzeugen einen Mehraufwand für die Veranstalter.

Auch Fenja Möller bleibt kritisch. Ihrer Meinung nach wird selbst wenn es wieder losgehen darf, dies nicht von null auf 100 geschehen: "Es wird einen Moment dauern, bis sich die Leute wieder auf Veranstaltungen trauen." Daher sei neben der finanziellen Unterstützung auch ein Aufruf seitens der Politik wichtig: Es müsse zu einem gegebenen Zeitpunkt klar und deutlich kommuniziert werden, dass es wieder in Ordnung ist, auf Veranstaltungen zu gehen. Oder, wie SUZé es sagt: "Die Handbremse ist noch angezogen und ich würde mich extrem freuen, wenn wir diese demnächst wieder lösen können." 

In Deutschland gibt es rund 1400 Clubs, die seit März 2020 keinerlei Partys veranstalten dürfen. Für Open-Air-Events gab es im Sommer einige Ausnahmen.  

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