Es ist nicht nur wegen Joschka. Diese Wand aus Fotografen, mitten im Nichts. Hundert Männer und eine Handvoll Frauen, mit Schals, Thermoskannen, Steppwesten, mit Fotohockern, Teleobjektiven, Stativen, neuester Technik, Infrarot im weiten Gelb der abgemähten Felder, wo Nordvorpommern mit der vorgelagerten Halbinsel Darß noch wild ist, windig und wirr. Sie sind ihm gefolgt. Tausende von Kilometern. Sie haben ihn fotografiert, gefilmt, beobachtet, interpretiert. Sie wollten wissen, mit wem er sich trifft, wie oft, wie lange. Und dann haben sie es rausgekriegt: Joschka ist endlich Vater.
Der Nebel legt sich langsam zum Schlafen in die Erde an diesem frühen Morgen, der Restsommer dampft noch aus dem Boden, aber die Luft schmeckt schon nach Herbst. Joschka ist da, und Joschka kam nicht allein. Joschka ist ein Kranich. Geboren im Frühjahr 2003, beringt im Juli 2003 mit Blau und Rot-Grün vom Kranichforscher Günter Nowald, zusammen mit seinem Nestgenossen Schröder, Ringfarbe Schwarz-Rot-Gold. Mit ein paar Tausend Gleichgesinnten trifft er sich an diesem Morgen zum Fressen in der Nähe von Groß Mohrdorf. In aller Frühe sind sie aufgebrochen, über den Bodden geflogen, wo sie, in Gruppen zusammenstehend, mit den Beinen im Wasser die Nacht verbringen, damit ihnen der Fuchs oder der Mensch nicht Schlaf oder Leben raubt. Auf den Feldern des Festlandes schlagen sie sich die Bäuche voll, um bei Sonnenuntergang wieder zurückzukehren ins Schlafquartier vor dem Darß.
Einer der größten Sammelplätze der Erde
Die Ersten kommen aus dem Osten, dem Baltikum, Russland, der Ukraine. Sie legen auf dem Darß einen Zwischenstopp ein - um sich zu sammeln, um sich auszuruhen, um sich vollzufressen für die 2000 Kilometer lange Reise gen Süden. Der Darß und die umliegende Rügen-Bock-Region ist einer der größten Sammelplätze für die Kraniche dieser Erde. Irgendwann werden die Norweger dazukommen, die Finnen, die Dänen. Dann ziehen sie alle gemeinsam weiter, Zehntausende Kranichfamilien, 40.000 bis 70.000 Vögel. Was für eine Party.
Und was für ein Anblick. Lebenslust und Melancholie zugleich, denn der Gesang des Kranichs verheißt den Abschied des Sommers, das Ende des Jahres, die Vergänglichkeit des Lebens, den ewigen Kreislauf.
In vielen Kulturen gelten die Kraniche als Vögel des Glücks, Botschafter des Friedens, Symbole der Lebensfreude. Sänger sind sie, Familientiere, Künstler und Clowns der Lüfte, die im Flug manchmal die langen Beine schlenkern lassen wie ein Kind im Kettenkarussell. Und treu: Wenn ein Kranich nach ein paar wilden Jahren die Richtige gefunden hat, verlässt er sie sein Leben lang nicht mehr. Die Männchen kehren immer wieder in ihre Geburtsregion zurück, die Weibchen ziehen in die Ferne und sorgen so für den genetischen Austausch. Nestbau, Brut, Futtersuche und Erziehung des Nachwuchses werden partnerschaftlich geteilt. Nur wenn ein Rabauke nicht mitmacht, dann trennt man sich. Aber das ist selten.
Zehntausende Menschen erliegen dem Zauber der Kraniche Jahr für Jahr. Und in diesen Wochen der Rast versuchen sie, den mythischen Vögeln so nahe wie möglich zu sein. Sobald die Badegäste abgereist sind von der Ostseehalbinsel Fischland-Darß im Nordosten Deutschlands, kommen die Naturfreunde. "Leider alles voll", sagen Hoteliers bedauernd, wenn Ende September der ein oder andere Spontanausflügler an der Rezeption steht und sich wundert. "Es sind doch Kranich-Tage."
Willkommene Geschäftsidee
Die Hoteliers sind die besten Freunde der Kraniche. Sie bieten Kranich-Wochenenden an, Kranich-Erlebnistouren, Kranich-Fahrten, Kranich-Wanderungen, Frühstücke mit Kranich-Eierbechern. Die einen Urlauber verbringen die Tage mit den Vögeln. Sehen ihnen beim Fressen zu, bei ihrem charakteristischen Tanz, der nicht nur der Balz dient, sondern einfach dem Spaß, hören ihre Rufe, fotografieren, filmen, fachsimpeln.
Damit die Menschen den Kranichen nicht überall nachstellen, die Felder zertrampeln, die Autos stehen lassen auf den Straßen, querfeldein rennen und sich die Städterfüße verstauchen, um den Glücksvögeln nahe zu sein, haben Naturschützer sogenannte Ablenkfütterplätze eingerichtet. Jeden Morgen kommen die Bauern und kippen Mais und andere Leckereien auf bestimmte abgemähte Felder. In angemessener Entfernung wird eine Wiese freigehalten, für Fotografen und Touristen. Denn der Kranich ist ein sehr scheuer Zeitgenosse, und wenn einer auffliegt, fliegen alle und verbrennen wertvolle Energie, die ihnen auf den letzten Metern des Zugs womöglich fehlt.
Die Beobachtungswiesen sind weit genug entfernt, um die Kraniche nicht zu stören, und die haben sich mittlerweile wohl auch gewöhnt an diese merkwürdigen Zweibeiner, die da zu ihnen herüberstarren, und manchmal starren sie zurück, und dann weiß man gar nicht mehr so genau, wer hier eigentlich wen beobachtet. Doch auch auf diesen Wiesen muss man sich rechtzeitig einfinden, um einen Platz in der ersten Reihe zu kriegen mit Blick aufs kalte Kranich-Büfett. Futtersponsor ist, so viel Schleichwerbung muss sein, die Lufthansa. Die Flieger mit dem Kranich im Logo.
Unglaubliche Kulisse
Für die Hartgesottenen gibt es Fotoverstecke noch näher dran. Mit Eimer. Bedingung: vor Sonnenaufgang rein, nach Sonnenuntergang raus. Wenig bewegen, gar nicht reden. Essen mit reinnehmen, gefüllten Eimer wieder mit rausnehmen. Das klingt hart, aber es scheint nicht hart genug. Wochen vor Ankunft der Kraniche sind die Verstecke ausgebucht.
Die anderen Urlauber verbringen die Abende mit den Kranichen. Sie fahren mit Booten in den Bodden, gern auch mit einem traditionellen Zeesenboot. Das sind Holzschiffe mit braunen Segeln, wie man sie nur hier in der Region kennt, feste Dinger, imprägniert mit Torf, Ziegelstaub und Ochsenblut, die früher als Fischerboote genutzt wurden, quer zum Wind für das langsame Boddenfischen.
Jetzt tuckert man damit in der Abendsonne zu den besten Plätzen, legt sich ins Schilf und an Deck auf den Rücken, starrt in den Himmel, der langsam rot wird, schweigt - und wartet. Und wartet. Und gerade, wenn man denkt, dass es ganz schön kalt wird und dass jetzt wohl nichts mehr kommt und dass man vielleicht an der falschen Stelle liegt und der Typ am Steuer wahrscheinlich keine Ahnung hat, dann sieht man es: erst nur feine Fäden wie aus Staub, ganz oben am Himmel, wie eine zarte Zeichnung. Sie kommen. Immer mehr, immer tiefer, immer lauter, in die untergehende Sonne hinein fliegen die Kraniche zu ihren Schlafplätzen über einen hinweg, und es sind so viele, Tausende, Millionen, denkt man und versteht sein eigenes Wort nicht mehr. Aber es gibt auch nichts zu sagen. Sehen muss man das und hören, bis es leiser wird, die Kraniche sind schlafen gegangen, ein paar Nachzügler noch, und ganz von Ferne hört man, wie sie ihren Kindern wohl noch ein paar Gutenachtgeschichten erzählen. Ein Festival der Natur. Aufführung täglich, Eintritt frei.
Natürlich ist der wilde Darß auch aus anderen Gründen schön, in diesen goldenen Herbsttagen. Die endlosen weiten, leeren, sandigen Strände bei Prerow oder Dierhagen. Der berühmte Weststrand, nur zu Fuß oder mit dem Rad zu erreichen, kilometerlang durch den Darßer Urwald mit seinen knarzigen windschiefen Kiefern und einem Waldgeruch, den man nie wieder vergessen kann. Diese klare Luft, die Dünen, die wilden Wälder in wilden Farben, dieses einzigartige Licht, Freigang für die Seele. Tolle Hotels, Whirlpool, Wellness, weiche Betten. Aber die Kraniche. Als ob sie all das, all diese Sehnsucht in sich tragen und mit sich fortnehmen, aber auch die Gewissheit: Nächstes Jahr kommen sie wieder. Sie und der Sommer und das Licht, und das Leben wird weitergehen.
Fressen, Radau machen, Freunde treffen
Jetzt werden sie erst mal bleiben, fressen, fliegen und tanzen und die Menschen beglücken, solange der Wind noch von Süden weht, denn der Kranich fliegt nicht gern gegen den Wind. Das Leben ist zu kurz und die Reise zu lang, um unnötige Anstrengungen auf sich zu nehmen. Wenn der Wind dreht, Ende Oktober, Anfang November, lassen sie sich vom kühlen Nordzug tragen Richtung Winterquartier, Andalusien, Südfrankreich, Tunesien, Marokko, all die Orte, wo man sich selbst auch gut den Winter vorstellen kann.
Schröder übrigens kommt nicht mehr. Er ist verschwunden. Irgendwo im Osten. Zwei Möglichkeiten gibt es, sagen die Experten: Schröder hat sich in eine Schwedin verliebt und fliegt mit ihr den baltischungarischen Zugweg. Oder: Schröder ist in Wirklichkeit ein Mädchen.