Lässig stützt Gerrit Mol sich auf seinen Bootshaken. Der Stechkahn liegt bewegungslos auf einem kleinen See namens Bovenwijde. Keine Welle kräuselt das Wasser, die glatte Oberfläche glitzert im Sonnenlicht. Stille, absolute Stille herrscht rundherum in Giethoorn, hier im Kop van Overijssel, dem Kopf, dem Nordwesten der Provinz. An einem sieben Kilometer langen Kanal reihen sich die Häuschen der einstigen Torfstecher, Reetzuschneider und Milchbauern. Nur mit dem Punter, dem Stechkahn, sind sie zu erreichen. Wie sein Vater arbeitete auch Gerrit Mol früher als Zimmermann. Über die Dorfstraße, wie sie die Gracht nennen, hat er die Hälfte aller Brücken gebaut. Doch diese Zeiten sind vorbei. Heute betreibt Mol die Frühstückspension "De Kruumte" und dazu einen Bootsverleih. 90 traditionelle Punter gibt es in Giethoorn noch, erzählt Mol. Bis vor kurzem waren sie motorisiert, knatterten laut über das Wasser und stanken nach Sprit. Nun haben die Kähne einen Elektroantrieb. Sie transportieren Lasten und Menschen, Einheimische sowie eine Million Touristen, die das grüne Wasserdorf jedes Jahr vor allem im Sommer besuchen. Wer es ruhiger mag, sollte im Frühjahr oder ab Ende August anreisen. In dieser Zeit lässt sich auch der Punterbauer Willem Wildeboer mal auf die Finger sehen, aber nur, wenn es die Arbeit erlaubt. "Ich mag nicht den ganzen Betrieb stilllegen, nur weil Neugierige hereinschneien", sagt Wildeboer. Er besitzt eine der zwei klassischen Bootswerften, die es bis in die neue Zeit geschafft haben. Hier fühlt sich der Besucher um 100 Jahre zurückversetzt. Es riecht nach Eichenholz, Teer, Torf und Tinte. Überall stehen Farbtöpfe, liegen Messer, Hobel, Meißel und Holzreste. Abends, am Tresen im Hotel Geertien in der Siedlung Muggenbeet, sitzt der Diplom-Schifffahrtsmeister Frans Piessens. Er ist der Kapitän der "Berkel", der offiziellen Yacht der Provinz Overijssel. Wenn Piessens gerade keinen Ausflug mit Gästen der Gemeinde macht, schippert er aus anderen Gründen: Dann kontrolliert er die Qualität von Deichen und Dämmen, von Uferbefestigung und Böschungen und auch die Papiere der Freizeitschiffer, die hier kreuzen.
Piessens nimmt uns am nächsten Tag mit auf Tour. Während er routiniert die 13 Meter lange "Berkel" über Seen und durch Kanäle steuert, gleitet die Wasserlandschaft vorbei, sind ferne Stimmen von Mariskensänger, Bartmeisen und Rohrdommeln zu hören. Wir durchqueren die "Wieden" und "Weerribben", halb Land, halb Wasser. Mit einer Fläche von fast 10000 Hektar sind diese beiden Naturparks das größte Flachmoor Westeuropas. Sich hier zu Fuß auf Erkundungstour zu begeben ist nicht ungefährlich, warnt Piessens. Vermeintlich fester Boden besteht in Wahrheit oft aus schwimmenden Moorpflanzen. "Besser, man lässt sich in einem Info-Zentrum beraten." Überall im Kop van Overijssel, nach einer Umfrage eines Fernsehsenders die schönste Gegend der Niederlande, liegen Yachten verschiedener Größen, die Touristen mieten können; ein Führerschein ist nicht nötig. "Diese Boote sind von Laien leicht zu steuern", sagt Piessens, "sie bekommen die notwendigen Instruktionen." Doch lieber sieht der erfahrene Seemann Skipper mit Bootsführerschein. "Man fühlt sich dann weniger gestresst." Am nächsten Tag Erkundung der Gegend mit dem Auto Richtung "Weerribben". Das Land ist leer, der Blick geht weit in den hellblauen Frühlingshimmel mit den weißen Wölkchen. Ein Bild, wie es die niederländischen Maler liebten. Am Hogeweg, der von der Tjaskermühle in Kalenberg nach Ossenzijl führt, verkündet eine Tafel an einer Gaststätte: "De koffie is klaar" - der Kaffee ist fertig. Er schmeckt köstlich und ist schwarz wie das Moor, in dem einst die Torfstecher arbeiteten. Bilder im Lokal erzählen von ihrem harten Alltag. Vom Hoogeweg geht es über den Lage Weg zum Meeresdeich zwischen Blokzijl und Kuinre, links ab in Richtung Blankenham. Nur wer genau hinsieht, erkennt eine lang gezogene Nahtstelle. Hier ist das alte Festland mit den Flächen des Noordoostpolders zusammengewachsen, der 1942 trockengelegt wurde. Auf der einen Seite entstanden in schnurgerader Reihe neue Höfe auf dem früheren Meeresboden, vier Meter unter dem Wasserspiegel. Auf der anderen Seite, durch den Damm getrennt, findet sich weit höher gelegen die ursprüngliche Bebauung, das alte Land. Vor vielen Jahren schlug hier bei einem Sturm die Zuiderzee Löcher in den Deich. Das Wasser überflutete Wiesen, Bauernhöfe, ganze Dörfer. Darum hat man bei Blankenham eine Warnstation eingerichtet. Ein Kanonenschuss bedeutet Gefahr, ein zweiter Schuss einen Durchbruch im Damm, ein dritter befiehlt: sofort verschwinden!
Die Fertigstellung des Abschlussdeiches zwischen Friesland und Nordholland 1932 brachte eine grundlegende Wende für das Leben in den wohlhabenden Fischereihäfen am Ijsselmeer. Das Salzwasser wurde erst brack, später süß. Vegetation und Tierwelt veränderten sich unwiederbringlich. Krabben, Garnelen, Muscheln und Strandschnecken zogen sich zurück. "Gottes Schöpfung passte sich den neuen Gegebenheiten an", sagt Maarten Dapper, ein ehemaliger Fischer aus Blokzijl. Der Walfang der Blokzijler und die Handelsfahrten der Hasselter Hanse mit ihren typischen Koggen wurden, mit Dappers Worten, "abserviert in die Vergangenheit". Die Gemeinden brauchten lange, um sich auf die neue Zeit einzustellen. Heute setzen sie auf Tourismus; Blokzijl, Zwartsluis, Vollenhove und Hasselt sind Hochburgen des Wassersports. Sie locken Angler, Segler, Surfer, Schwimmer und Taucher. Aber auch Wanderer, Biologen und Liebhaber von Kultur und Historie kommen hier auf ihre Kosten. Hasselt wirkt wie eine Miniaturausgabe von Amsterdam. Die Grachten sind gesäumt von den schlichten Giebelhäuschen der ehemals Armen sowie den stolzen Stadtpalästen der Patrizier. An der Mauer des Backsteinhauses in der Brouwersgracht Nummer 15 erinnert ein Metallschild an den Bäcker Gerrit Lansing und seine Familie. Sie wanderte im 17. Jahrhundert nach Amerika aus und hinterließ dort große Spuren. Lansing, die Hauptstadt Michigans, ist nach ihnen benannt. Auch der Kaufmann Kiliaen van Rensselaer, der 1586 in der Hoogstraat 12 geboren wurde, brachte es in Übersee zu Ruhm. Er gilt als Mitbegründer des Staates New York. Sein Geburtshaus, das 1998 renoviert wurde, liegt direkt an der Ecke beim spätgotischen Rathaus. Als Perle der verträumten Städtchen des Kop van Overijssel gilt Blokzijl. Im Sommer drängen sich hier Touristen mit dem Auto, zu Fuß oder auf dem Fahrrad durch die Gassen mit ihren attraktiven Geschäften. Auf einer Terrasse oder auf dem Achterdeck eines Bootes ruhen sie sich dann aus. Die Spezialität in Blokzijl sind Kaffee und Brocken, ein Gebäck, das an Spekulatius erinnert. Sollte das Stück klein sein, hat das durchaus Sinn. Es handelt sich um eine Vorbeugemaßnahme des Bäckers, denn Brocken quillt auf und kann schwer im Magen liegen.
Beim Thema Essen gehört auch die Geschichte von Kaatje auf den Tisch, die Tochter der Wirtin von der Herberge "In den Gouden Walvisch", Zum Goldenen Wal. Kaatje hatte die Gastwirtschaft übernommen und machte sich einen Namen mit Rezepten, die sie nicht preisgab. Ein Mann, der ihr die Geheimnisse dennoch zu entlocken versuchte, meuchelte schließlich die tüchtige Frau. Ihr Ruf aber überlebte; Kaatje erhielt sogar ein Denkmal, zwei öffentliche Gärten wurden nach ihr benannt. Vor allem aber lebt sie weiter im Namen des ausgezeichneten Restaurants "Kaatje bij de Sluis". Andere Lokale der Region versuchten mit ihrem Niveau nachzuziehen. Wer heute im Kop van Overijssel erlesen tafeln will, kann unter erstklassigen Restaurants wählen. In Giethoorn gibt es neben dem "Kaatje" noch den reetgedeckten "Lindenhof" von Martin Kruithof. Seine Küche ist klassisch. In Zwolle, dem Tor zum Kop, betreibt der freche Giethoorner Kochkünstler Jonnie Boer, der absolute Kochstar in den Niederlanden, das "De Librije". Wie Kruithof kocht auch Boer mit regionalen Produkten wie Zander, Hecht und Aal aus den Wieden; Rehe und wilde Enten aus den Reetfeldern, Käse und Lamm von den örtlichen Bauern. Jonnie Boer macht sogar eine Mousse vom Stengel der Sumpfdotterblume. Natürlich aus Giethoorner Gewässern. Und von ihm selbst gepflückt.