Seine vielleicht wichtigste Reise legte Thomas Cook zu Fuß zurück. Am 9. Juni 1841 brach der Baptistenprediger in seinem Dorf Market Harborough auf. Sein Ziel: eine Abstinenzler-Kundgebung in der 24 Kilometer entfernten Stadt Leicester. Ein Pferd oder gar eine Kutsche konnte sich der 32-Jährige nicht leisten. Andere Verkehrsmittel gab es nicht – noch nicht. Doch als Cook während des mehrstündigen Marschs eine Pause einlegte, stieß er in einer Zeitung auf eine interessante Meldung. Die Eisenbahn, die seit ein paar Jahren Industriegüter wie Kohle und Stahl durch England transportierte, hatte auf einem neuen Streckenabschnitt einen Personenzug eingesetzt, mit dem sich Mitarbeiter zweier technischer Institute aus Leicester und Nottingham gegenseitig besucht hatten.
Ein Geistesblitz durchzuckte Cook. "Wie wunderbar wäre es", notierte er in seinen Tagebuchaufzeichnungen, "wenn diese neu entwickelten Kräfte von Eisenbahnen und Reisemöglichkeiten der Ausbreitung des Abstinenzgedankens dienstbar gemacht werden könnten."
Cook hielt den Alkohol für den Ursprung allen gesellschaftlichen Elends. Schon seit Jahren suchte er nach Wegen, die Trunksucht im viktorianischen England zu bekämpfen. Wichtig erschien es ihm, seinen Mitmenschen nicht nur mit mahnenden Worten zu begegnen, sondern ihnen Alternativen zum prekären Trott des Trinkens anzubieten. Reisen für jedermann: Das klang nach einem Trumpf im Kampf gegen den Alkohol.
Am Ende seines Fußmarschs hatte Cook einen Plan gefasst: Er wollte eine Zugfahrt für die Anhänger der Abstinenz-Bewegung organisieren. Die Aktivisten, denen er in Leicester davon erzählte, waren begeistert. Unter ihnen war der Direktor der regionalen Bahngesellschaft Midland Railways. Als Cook dort am nächsten Morgen einen Sonderzug anfragte, bekam er gleich noch eine Spende obendrauf. Mit dem Startkapital druckte er Plakate und Werbezettel, auf denen er Tickets zum Sonderpreis von 1 Schilling anpries – Schinkenbrot und Tee inklusive.
Knapp einen Monat später, am 5. Juli 1841, versammelten sich 485 Abstinenzler am Bahnhof von Leicester, um gemeinsam ins 18 Kilometer entfernte Loughborough zu fahren. Nur einer der Waggons hatte Sitzplätze und ein Dach, in den übrigen neun standen die Passagiere unter freiem Himmel – unter ihnen die Mitglieder einer Blaskapelle. Die Fahrt wurde zum Ereignis: "Menschen drängten sich auf den Straßen, lagen in Fenstern, standen auf Dächern und jubelten uns auf der ganzen Strecke mit den herzlichsten Willkommensrufen zu", notierte Cook. In Loughborough zog die illustre Reisegruppe quer durch den Ort in einen Park, wo ein Picknick, Musik, Sport, Spiele und Reden auf sie warteten. Gegen 22.30 Uhr abends fuhr der Zug mit den erschöpften Teilnehmern zurück nach Leicester.
Thomas Cook, der Pionier der Reisebranche
So begann die Karriere eines Mannes, der etwas in Gang setzte. Thomas Cook erweiterte den Bewegungsradius seiner Mitmenschen ins damals Unvorstellbare. Seine Nachfolger verhalfen Millionen von Reisenden zu neuen Eindrücken, zu Ablenkung, Erholung und Zerstreuung. Cooks ursprüngliches Ziel, die Eindämmung des Alkoholmissbrauchs, geriet dabei zunehmend aus dem Blick: 180 Jahre nach seinem ersten Geistesblitz gehören Saufgelage in beispielsweise spanischen und thailändischen Touristenhochburgen zu den negativen Auswüchsen jenes globalisierten Billigtourismus, den die Welt einem Prediger aus Leicestershire verdankt.
Cooks Verdienst war es, das Reisen zum erschwinglichen und allgemein zugänglichen Konsumgut zu machen, das für viele heute zu den wichtigsten und schönsten Aspekten des Lebens zählt. Zudem legte er den Grundstein für eine der größten und stabilsten Wachstumsbranchen weltweit: Mit zuletzt sieben Milliarden Reisen und einem Marktumfang von 8000 Mrd. Euro ist der Tourismus laut Weltverband WTTC für 10,4 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts und jeden zehnten Job verantwortlich. Auch die Thomas Cook Group zählte bis zur Insolvenz zu den größten Reisekonzernen der Welt. Das angeschlagene Unternehmen wurde zuletzt nur durch einen Schuldenschnitt und eine Kapitalerhöhung des chinesischen Investors Fosun am Leben gehalten. Am Montag musste der Reisekonzern dann doch Insolvenz anmelden: Für die Rettung fehlten 200 Mio. Pfund. Die britische Regierung wollte nicht einspringen.
Der Erfinder der Pauschalreise?
Gern wird Thomas Cook als Erfinder der Pauschalreise bezeichnet. War er das? Ja und nein, sagt Jörn Mundt, der 2014 mit "Thomas Cook – Pionier des Tourismus" ein kritisches Standardwerk verfasst hat. Cook gelang es, eine technologische Neuerung (die Eisenbahn) und eine Grundidee (lokale Gruppenreisen) so weiterzuentwickeln, dass ein massentaugliches Produkt daraus wurde (durchorganisierte Reisen, bei denen alle Dienstleistungen und die Rechnung aus einer Hand kamen). Er erweiterte das Konzept durch Innovationen (Hotelgutscheine, Reiseschecks) und eigene Erfindungen (Reisekataloge, Reisebüros, Zielgebietsagenturen). Cook hat klug skaliert und schlau kuratiert. "Er hat die Industrialisierung des Reiseprodukts vorangetrieben", sagt Roland Conrady, Professor im Fachbereich Touristik der Hochschule Worms.
Trotzdem gab es Vordenker und Mitbewerber. Schon mindestens fünf Jahre vor Cooks erster Veranstalterreise boten britische Eisenbahngesellschaften etwa Tagesausflüge zu öffentlichen Hinrichtungen an. Konkurrenten wie Henry Robert Marcus, Joseph Crisp oder Henry Gaze organisierten ebenfalls Reisen. Doch niemand setzte sich so erfolgreich damit durch wie Thomas Cook und seine Nachfolger. "Es ist das einzige der Mitte des 19. Jahrhunderts in England gegründeten Reiseunternehmen, das über Generationen hinweg trotz aller Veränderungen unter diesem Namen erhalten geblieben ist", resümiert Mundt.
Für Cook war das Reisegeschäft ein Neustart. Er war in ärmlichen Verhältnissen in einer kleinen Gemeinde 200 Kilometer nördlich von London aufgewachsen. Großbritannien steckte Anfang des 19. Jahrhunderts in der Wirtschaftskrise. Cook, dessen Vater starb, als der Junge drei Jahre alt war, musste mit zehn von der Schule abgehen, um seine Mutter und die beiden Stiefbrüder durchzubringen. Er jobbte bei einem Gärtner, bevor er eine Tischlerlehre bei seinem Onkel anfing. Beide Chefs waren schwere Alkoholiker, deren Arbeit er häufig mitübernehmen musste.
Cook war zäh, diszipliniert und wissbegierig. Neben der Arbeit besuchte er eine Sonntagsschule, wurde mit 20 Laienprediger in einer Baptistengemeinde, engagierte sich ehrenamtlich als Lehrer und trat der Abstinenzler-Bewegung bei. Für die Aktivisten brachte der wortgewandte junge Mann eine eigene Zeitung heraus. Um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, baute er eine Tischlerei auf. Cook sei als "beeindruckend energisch und einschüchternd ernst" wahrgenommen worden, schreibt der britische Historiker und Firmenarchivar Piers Brendon.
Gut gebucht - und nicht lukrativ
Der ersten Reise folgten Anfragen für weitere. Cook reizte das Geschäft, weil er aufklären und reformieren wollte. Er habe kein gewinnorientiertes Unternehmen aufbauen wollen, schreibt Tourismusforscher Trent Newmeyer in einem Fachartikel. Wichtiger sei es ihm gewesen, "Teil einer größeren sozialen Bewegung zu sein". Dafür würde er heute wohl als Social Entrepreneur gefeiert werden, als ein Start-up-Gründer, der die Welt zu einem besseren Ort machen will.
Bloß musste Cook bald einsehen, dass sein Idealismus nicht weit trug. Seine Tagesreisen waren gut gebucht, aber nicht lukrativ – der Unterschicht fehlte das Geld. Cook entwarf einen Finanzplan, den er auf eine simple Formel brachte: "Philanthropie plus fünf Prozent". Um die angestrebte Gewinnmarge zu erreichen, führte er neben seinen preiswerten Ausflügen neue Angebote für die zahlungskräftigere Mittelschicht und das Bildungsbürgertum ein.
Die erste Reise dieses neuen Typs startete an einem Sonntag, dem 10. August 1845, um kurz vor 5 Uhr morgens vom Bahnhof Leicester in die 270 -Bahnkilometer entfernte Hafenstadt Liverpool. Mehr als 1200 Männer, Frauen und Kinder, von denen viele noch nie das Meer gesehen hatten, nahmen an der mehrtägigen Reise teil. Mit vier verschiedenen Bahngesellschaften hatte Cook Preise ausgehandelt und jeweils fünf Prozent Provision eingestrichen. Für 4 Schilling extra konnte jeder Gast vor Ort einen Dampferausflug oder eine Bergtour hinzubuchen. "Ein angenehmeres, vernünftigeres und reizvolleres Vergnügen kann man sich kaum ausdenken", schrieb ein mitreisender Journalist im "Leicester Chronicle".
Cook hatte die Reisestrecke vorab detailliert erkundet und eine Broschüre mit Stationen und Sehenswürdigkeiten, Hinweisen und Warnungen zusammengestellt. Das "Handbook of the Trip to Liverpool" war gewissermaßen der erste moderne Reiseführer. Zudem brachte Cook eine Reisezeitung ("Cook’s Excursionist") mit aktuellen Angeboten heraus, die später weltweit vertrieben wurde.
Das Konzept ging auf: Die neue Zielgruppe war zahlungsbereit, die Nachfrage überstieg die eingekauften Kapazitäten. Die Tickets wurden unter der Hand sogar zum doppelten Preis verkauft. In den folgenden drei Jahrzehnten expandierte Cook und rappelte sich auch nach einem zwischenzeitlichen Konkurs mit seinem verlustreichen Verlagsgeschäft innerhalb weniger Monate wieder auf. Er tourte durch ganz Europa, 1865 auch nach Amerika, dann in den Nahen Osten. 1872 organisierte er gar eine Weltreise: In 222 Tagen legten deren Teilnehmer gut 40.000 Kilometer zurück, von Großbritannien über Amerika, Japan und China bis zurück nach Europa.
Cook sicherte sich feste Kontingente bei Transport- und Beherbergungsunternehmen. Als Großhändler bekam er Rabatte und kassierte Provisionen. Die einzelnen Bausteine der Reisen schnürte er zu Rundum-sorglos-Paketen für unerfahrene Reisende – ein Geschäftsmodell, das im Kern bis heute Bestand hat.
Cook brachte sich selbst als abenteuerlustiger Reiseleiter auf den häufig noch weitgehend unerschlossenen Routen ein. Und unermüdlich suchte er nach Ideen, die seinen Kunden das Reisen erleichterten. Ab 1865 eröffnete er Reisebüros im In- und Ausland, 1868 führte er Hotelgutscheine ein, 1872 Reiseschecks, die den Zahlungsverkehr mit Fremdwährungen für lange Zeit erheblich erleichtern.
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Die Expansion von Thomas Cook
Als Unternehmer kannte er aber auch seine Grenzen. "Thomas Cook legte das Fundament, aber er wäre nicht in der Lage gewesen, das internationale Reisesystem zu errichten, zu dem das Unternehmen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurde", schreibt Touristikprofessor John Walton. Das übernahm stattdessen sein Sohn John Mason Cook, der mit 30 Jahren ins Unternehmen einstieg und es ehrgeizig auf Gewinnmaximierung trimmte. Für die altruistischen Ideen seines Vaters zeigte er wenig Verständnis. Es kam zu erbitterten Auseinandersetzungen um die Ausrichtung, bis der Senior 1879 dem Sohn die Geschäftsführung überließ.
John Mason Cook expandierte, gründete Niederlassungen in zahlreichen Ländern, diversifizierte das Unternehmen: Er übernahm Transporte für die britische Armee sowie Postdienste in Ägypten und richtete Staatsbesuche für ausländische Regierungsvertreter aus. Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts war das Unternehmen weltweit etabliert.
Die starke Marke überlebte ihren Gründer und dessen Nachfolger über alle Gesellschafterwechsel hinweg. Cooks Enkel verkauften das Unternehmen 1928 für 3,5 Mio. Pfund an den einzigen internationalen Konkurrenten, die belgische Compagnie Internationale des Wagons-Lits. Nach dem Krieg wanderte Thomas Cook erst unter das Dach der britischen Bahngesellschaft, gehörte dann der Midland Bank und wurde 2001 an den deutschen Reisekonzern C&N verkauft, der damals noch zu Lufthansa und KarstadtQuelle gehörte. C&N reihte den britischen Veranstalter in sein Reiseportfolio, zu dem auch Condor und Neckermann gehörten, und übernahm die Marke Thomas Cook als Firmennamen für das ganze Konglomerat. Nach einem jahrelangen Expansionskampf mit dem Erzrivalen TUI fusionierte das Unternehmen 2007 mit der britischen Mytravel und verlegte den Firmensitz wieder ins Heimatland Großbritannien.
Hohe Schulden
Als Nächstes sollte nun der chinesische Mischkonzern Fosun die Mehrheit an Thomas Cook übernehmen. Diese Reise war so nicht geplant. Das Unternehmen braucht die chinesische Geldspritze von 800 Mio. Euro, um überleben zu können. Hohe Schulden und anhaltende Verluste haben Thomas Cook erdrückt.
Könnte es auch das Todesfanal für das lange so erfolgreiche Geschäftsmodell des Tourismusgiganten sein? "Nein, die Pauschalreise ist nicht tot", sagt Touristikprofessor Roland Conrady. "Aber Marken wie Neckermann, Bucher oder Öger, die zur Thomas Cook Group gehören, zählen eher zu den angestaubten klassischen Pauschalreisen. Sie werden als Standardprodukte wahrgenommen, die nur unzureichend an die eigenen Bedürfnisse angepasst werden können." Diese Individualisierung sei heute aber für jede Kundenschicht wichtig. Während die großen Generalisten auf ihren austauschbaren Badeurlaubsangeboten in Spanien oder der Türkei sitzen bleiben, legen kleinere Spezialanbieter etwa für Sport- oder Bildungsreisen kräftig zu.

Thomas Cook, sagt Conrady, sei heute "bei Innovationen nirgendwo mehr führend". Anders als der Konkurrent TUI sind die Briten nicht ins lukrative Kreuzfahrtgeschäft eingestiegen. Der Aufbau eigener Hotels kommt erst langsam in Schwung. Den Markt für Ausflüge am Reiseort haben junge Angreifer wie Get your Guide besetzt. Und vor allem bei der Individualisierung der Angebote kommt Thomas Cook nicht voran: Das angekündigte neue Buchungsportal, mit dem Kunden sich Flüge, Hotels, Transfers und Verpflegung in einzelnen Bausteinen zusammenstellen sollen, ist nicht pünktlich im Juli fertig geworden.
Es half dem Konzern auch nicht, dass ihm ansatzweise wieder eine soziale Mission eingeimpft werden sollte. Zumindest behauptete das Guo Guangchang, der Gründer des neuen Haupteigentümers Fosun: Er investiere in Unternehmen, die das Wohlbefinden der Menschen steigern. Dieses Ziel hat Thomas Cook, der im Juli 1892 mit 83 Jahren starb, klar erreicht. So steht es auf seinem Grabstein: "Millionen Menschen hat er das Reisen ermöglicht".
Der Beitrag aus der Reihe Revolutionäre der Wirtschaft ist in Capital 08/2019 erschienen. Interesse an Capital? Hier geht es zum Abo-Shop, wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es bei iTunes und GooglePlay