China Wo Fengshui spürbar ist

Das Städtchen lohnt einen Abstecher. Nur zwei Autostunden entfernt von Shanghai liegt Wuzhen, eine uralte Idylle mit mehr als 30 Brücken. Die Einwohner halten sich an die Lehre, stets im Einklang mit Wind und Wasser zu leben.

Die 20-jährige Sun hat ihr Kopftuch nach hinten gebunden. Es leuchtet in tiefblauem Indigo, ebenso wie ihre Bluse, mit Blättern gefärbt, wie es hier in der südlichen Jangtse-Region seit Jahrhunderten Brauch ist. Sun presst Mehl, Zucker, Salz, Sesam und Reispulver zusammen, schneidet die Masse in Form und wickelt Papier darum. "Schwägerin-Kuchen" nennt sich das, eine Spezialität aus dem chinesischen Städtchen Wuzhen. Sun kennt den Ursprung des Namens. Weil sie nach der Hochzeit die Eltern verließ, weihte eine Bäckerfamilie im alten China nicht die eigene Tochter, wohl aber die nun zur Familie gehörende Schwiegertochter in das Geheimnis des Kuchenbackens ein. Im Zorn streute die Tochter Salz in den Kuchen ihrer Schwägerin. So gewürzt, schmeckte der den Kunden sogar besser als der bisherige. Seitdem heißt das Rezept "Schwägerin-Kuchen". Nur zwei Autostunden liegt Wuzhen von der Metropole Shanghai entfernt. Die 1200 Bewohner der Altstadt leben auf dem Wasser, denn ihre verzierten, von Efeu umrankten Häuser mit den schwarzen Ziegeldächern stehen auf Pfählen aus Holz oder Stein, die in den Jiangnan-Kanal gerammt wur-den. Ein "ausgezeichnetes Fengshui", wie die Bewohner finden. Fengshui ist die jahrtausendealte chinesische Lehre, die Räume in Harmonie mit ihrer Umgebung zu bringen versucht, was auch im Westen immer mehr Anhänger findet. Übersetzt heißt Fengshui einfach "Wind und Wasser", und das, sind die Menschen hier überzeugt, wird ihnen Reichtum und ein glückliches Familienleben bescheren.

Wie in früheren Jahrhunderten meditieren alte Frauen auf Bambushockern in den verwinkelten Gassen, die mit meterlangen rechteckigen Steinen gepflastert sind. Mehr als 30 Brücken prägen den nur 1300 Meter langen Ort. Etwa die "dem Buddha zugewandte", eine verschnörkelte Steinbrücke in der Form eines Torbogens. Ein buddhistischer Mönch soll auf ihr gestorben sein. Als niemand für ihn betete, begann sein Geist zu wüten. Seither sprechen die Leute von Wuzhen an dieser Stelle ein Gebet, wenn ein Familienmitglied stirbt, und besänftigen damit den Geist. Das zumindest behaupten die alten Männer im Teehaus an der Brücke. In ihren Gläsern schwimmen weiße Blüten im bitteren, aber mit Zucker gesüßten Hangzhou-Chrysanthemen-Tee, einer weiteren Spezialität von Wuzhen. Aber warum ist sie nach Hangzhou benannt, einer anderen chinesischen Stadt? Weil der Kaufmann, der den Tee vor vielen Jahrhunderten in China verbreitete, die Herkunft seiner köstlichen Chrysanthemen vor den Konkurrenten vertuschen wollte.

Vor 1300 Jahren, während der Tang-Dynastie, wurde der Ort zum ersten Mal erwähnt, die Holzhäuser stammen aus der Qing-Dynastie (1644-1911). Vielleicht gehören sie eines Tages zum Weltkulturerbe der Unesco, denn solche Häuser sind in China selten geworden. Maos Hass auf die traditionelle Kultur seines Landes und der Modernisierungswahn haben wenig aus der Vergangenheit übrig gelassen. "Wir aber liegen abseits der Hauptverkehrswege, niemand hat sich für uns interessiert, und so sind wir von den Wirren der letzten Jahrzehnte verschont geblieben", sagt Chen Jie, die Vizedirektorin der Tourismusgesellschaft von Wuzhen. Eine Fahrt von Shanghai nach Wuzhen wird deshalb eine Zeitreise ins alte China. So alt Wuzhen ist, so jung ist der Tourismus hier. "Unsere Stadt wurde erst 2001 für Touristen geöffnet, viel später als andere Orte", sagt die erst 27-jährige Vizedirektorin. "Das war unser Glück. So konnten wir von den Fehlern der anderen lernen." Reisebusse und Autos müssen außerhalb der Altstadt parken, drinnen fahren nicht einmal Fahrräder. Chen Jie ist in Wuzhen geboren und in einem der Wasserhäuser aufgewachsen. Sie weiß: "Wer zu uns kommt, sucht die Ruhe und die authentische geheimnisvolle Atmosphäre einer alten Stadt. Wenn wir Wuzhen kommerzialisieren, verlieren wir unseren Reiz."

Damit es nicht beim guten Vorsatz bleibt, patrouillieren Wachleute dezent durch den Ort. Sie verhindern, dass sich Straßenhändler unter die Besucher mischen - eine Plage an der Chinesischen Mauer, in der Verbotenen Stadt in Peking und anderen Touristenzentren der Volksrepublik. Auch Souvenir- und Lebensmittelläden sind in der Altstadt von Wuzhen verboten. In den meisten Häusern wohnen Einheimische, andere dienen als Museen für jahrhundertealte Betten oder Münzen. Das bedeutet nicht, dass es in Wuzhen nichts zu kaufen gibt. Aber das Shoppen beschränkt sich auf einen Markt am Rand des Ortes. Und verkauft werden ausschließlich Dinge wie der Schwägerin-Kuchen und Indigo-Blusen, die hier vor den Augen der Besucher von Hand gefertigt werden. Shi Ziyu und Tang Ruikun, zwei örtliche Künstler, malen Wuzhens Häuser, Brücken und Kanäle auf Fächer und pinseln gern noch eine persönliche Widmung darauf - alles für umgerechnet ein bis zwei Euro. Daneben näht Frau Wang Mei'e blau gemusterte Schuhe, natürlich aus indigogefärbtem Stoff. Zwei bis vier Euro kosten sie, je nach Größe. Eines der Häuser, die in der Altstadt zu besichtigen sind, ist die Indigo-Färberei. Im Hof wehen die zum Trocknen aufgehängten Tücher, die nach traditionellem Verfahren bedruckt werden. Dazwischen fotografieren sich chinesische Touristen gegenseitig. Auch die Wohnhöfe sind hier mit Steinen gepflastert. Bambus- und Zwergbananenbäume wachsen in den Hintergärten. Im nächsten Haus qualmt es mächtig. Hier wird der örtliche Schnaps gebrannt, genannt "Drei Weiße", weil sie dafür weißen Reis, weiße Hefe und "weißes" (klares) Wasser benötigen. Wenige Minuten Fußweg entfernt wird aus Kokons der Seidenraupe der Stoff gewonnen, der von hier seinen Weg in die ganze Welt fand. Wuzhen ist einer der Ausgangsorte der Seidenstraße. Das Geheimnis der Herstellung soll Xiling, die Gattin des Gelben Kaisers Huang Di, den Chinesen vor fast 5000 Jahren beigebracht haben.

Weiter geht's ins Schattentheater, wo heute Sun Wukong, der Affenkönig aus der chinesischen Volkssage, gegen Monster kämpft. Dieses Spiel entführt vollends ins alte China, wo die Kunst vor 2500 Jahren entstand. Wie man in den Werkstätten den Meistern über die Schulter schauen kann, so darf man im Schattentheater hinter die Leinwand aus weißem Stoff blicken. Dort geht es nicht weniger aufregend zu als davor: Die 40-jährige Lu Xiaoping, in hochgekrempelten Hosen, bewegt mit Bambusstöcken die Figuren aus Kuhhaut und Schafleder. Neben ihr sitzen zwei Greise in T-Shirts, der eine schlägt einen Gong, der andere trommelt auf einem selbst gebauten Schlagzeug. Wer dem Charme von Wuzhen bis jetzt noch nicht verfallen ist, wird schwach, wenn er auf einem der Holzboote über den ruhigen Kanal gleitet, vorbei an den historischen Häusern. Ein alter Mann hockt in Unterhemd und Shorts am Ufer. Eine Hausfrau wäscht Hemden im Kanal. Jungen in Unterhose kraulen vor einem Schild "Baden verboten". "Das ist ein ganz anderes Land als das, das ich in den Metropolen erlebt habe", sagt Andrea Bescoa aus Mailand. "In Wuzhen bekomme ich ein Gefühl für das Leben im alten China." Noch sind die meisten Touristen hier aus dem eigenen Land. Für umgerechnet acht Euro kann man am Eingang aber auch schon einen englisch sprechenden Guide engagieren. Und deutschsprachige? "Die bilden wir gerade aus", sagt die Vizedirektorin der Tourismusgesellschaft. "Zum Jahresende werden sie im Einsatz sein." Die Besucher von Wuzhen helfen, die alte Stadt und ihre Traditionen zu erhalten. Wie den Schwägerin-Kuchen. Denn der wird heute fast nur noch von Touristen geschätzt. Sun, die kleine Bäckerin, lacht und gesteht: "Ich esse lieber Wassermelonen."

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Adrian Geiges

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