Auf den ersten Blick sieht Hebeden Bridge wie eine gut erhaltene viktorianische Industriestadt aus. Die Marktgemeinde, eingebettet in das Upper Calder Valley in West Yorkshire, wirkt mit ihren engen Gassen und Backsteinhäusern wie eine typisch englische Kleinstadt. Erst auf den zweiten Blick wird sichtbar, wofür der Ort schon lange bekannt ist: Ein liberales, alternatives Lebensgefühl, das seit Jahrzehnten Künstler und Anhänger der LGBTQ+-Community dorthin zieht. Die Gemeinde mit ihren 5200 Einwohnern gilt sogar als "Lesbian Capital of the UK". Dennoch ist das Städtchen international kaum bekannt – und daher noch ein echter Geheimtipp.
Hebden Bridge: Von der "Hosenstadt" zum "Lesbian Capital of the UK"
Früher war die Gemeinde als "Hosenstadt" bekannt. Der Spitzname ist laut der "Yorkshire Post" darauf zurückzuführen, dass in Hebden Bridge einst eine große Menge an Kleidung hergestellt wurde. Der River Calder, der durch die Stadt fließt sowie der Zugang zu größeren Wollmärkten machten Hebden Bridge zum idealen Standort für wasserbetriebene Webereien. Sie verhalfen der Stadt zu wirtschaftlichem Aufschwung. Im Laufe des 20. Jahrhunderts verloren die Webereien an Bedeutung, bis sie alle nach und nach schließen mussten. Die Arbeiter verließen die Stadt, immer mehr Gebäude standen leer, sodass Hebden Bridge ab den 1960er-Jahren dem Verfall überlassen war. Die Immobilienpreise erreichten einen Tiefpunkt, was die Stadt schlussendlich vor dem Niedergang bewahrte.
Wie unter anderem "National Geographic" und "The Guardian" berichten, zogen die günstigen Preise Künstler, Hippies und Naturschützer an, die ab den 1970er-Jahren die billigen Gebäude kauften oder mieteten. Die Zugezogenen legten das Fundament für den alternativen Ruf der Kleinstadt. "Die Kultur von Spindel, Webstuhl und Tretwerk war gestorben. Das Leben sickerte aus der Stadt", schreibt der "Guardian". Statt Textilien fertigt Hebden Brige nun Lifestyles. "Alles ist super-alternativ", bestätigt Jade Hudson aus Hamburg im Gespräch mit dem stern. Ihre Tante wohnt seit vielen Jahren in Hebden Bridge und arbeitet in einem Laden, in dem es "Trinkets" zu kaufen gibt. Auf Deutsch in etwa: "Kleinigkeiten, die man aus rationaler Sicht nicht braucht, die das Herz aber unbedingt haben will". Eine der ersten Erinnerungen, die die Halb-Britin mit Hebden Bridge verbindet, sind die besonderen Geschenke, die ihre Tante ihr als Kind geschickt hatte. Darunter ein rosafarbenes Kleid mit einem aufgedruckten Sportwagen, das zu ihrem persönlichen Symbol für die Kleinstadt wurde.
Neun Prozent der Anwohner gehören der LGBTQ+-Community an
Daher habe sie schon immer eine gewisse Neugier auf den Ort verspürt, aus dem diese Präsente kamen. In diesem Jahr besuchte sie Hebden Bridge zum ersten Mal und beschreibt den Ort als "Märchenstadt", eine Mischung aus englischem Dorf und hipper Großstadt. Es gibt gemütliche Cafés und typisch britische Lokale für Brunch und Afternoon Tea. Kneipen, Bars – unter anderem ein Genossenschafts-Pub, das mehr als 200 Einwohnern gehört – und Musik-Clubs, die zum Teil landesweit bekannt sind, zeugen von einem pulsierenden Nachtleben. "Für das Umland ist Hebden Bridge eine Partystadt, in die man am Wochenende zum Feiern fährt", erzählt Jade Hudson. Eine Partystadt auf ländlichem Niveau, fügt sie hinzu. "Mit Berlin oder Hamburg ist das natürlich nicht zu vergleichen." Allerdings findet man in der kleinen Gemeinde trotzdem jede Menge Läden, die man wohl eher mit Berlin oder Hamburg in Verbindung bringen würde als mit einem britischen Dorf: Kunstgalerien, Vintage-Klamottenläden und vegane Restaurants.

Nicht zu vergessen, die Schaufenster mit niedlichem Krimskrams (den "Trinkets"). "Die Geschäfte sind ästhetisch ansprechend: Alt, aber dennoch bunt und vielfältig", findet die 27-Jährige. Verkauft werden auch Geschenkartikel in Regenbogenfarben und Hochzeits-Grußkarten, auf denen die Vermählten mit Mrs. und Mrs. oder Mr. und Mr. angesprochen werden. Pride-Flaggen sind an jeder Ecke zu sehen und wehen das ganze Jahr über. Die LBGTQ+-Community siedelte sich ebenfalls in den 1970er- und 1980er-Jahren in Hebden Bridge an. Vor allem lesbische Paare fühlten sich in dem aufgeschlossenen Städtchen wohl, berichtet die "Huffington Post". Zu einer Zeit, "als Homosexualität noch teilweise kriminalisiert war, fanden lesbische Paare in Hebden Bridge eine unterstützende Gemeinschaft", erklärt die "Yorkshire Post". Deshalb heißt es schon lange, dass dort die meisten Lesben pro Kopf innerhalb Großbritanniens leben. Mittlerweile ist dort aber die gesamte LGBTQ+-Community gleichermaßen vertreten, sodass sich die Stadt durch "eine große LGBTQ+-Bevölkerung, eine unterstützende Gemeinschaft um sie herum und eine blühende Musik-, Kunst- und Kreativszene" auszeichnet. Die LGBTQ+-Community ist mittlerweile sogar statistisch erfasst. Bei der Volkszählung 2021 gaben neun Prozent der Einwohner an, sich als lesbisch, schwul, bisexuell oder anderweitig Teil der Community zu identifizieren. Laut dem "Guardian" ist das etwa drei Mal so hoch wie der nationale Durchschnitt.
Der Ruf als LGBTQ+-Hochburg zieht immer mehr Gleichgesinnte an
Darauf hat sich die Kleinstadt eingestellt. Eventlocations verfolgen eine strikte Politik gegen Homophobie, Transphobie und Frauenfeindlichkeit. Es gibt eine queere Wandergruppe. Und beim Happy Valley Pride feiert die Kleinstadt ihre bunte Community. Das Festival entstand laut dem Bericht der "Yorkshire Post" als Protest-Reaktion auf ein homophobes Graffiti, das Unbekannte 2015 in Hebden Bridge hinterließen. Die Einheimischen verbuchen diesen Vorfall als "Wochenend-Effekt": Für homophobe Übergriffe sind fast ausschließlich Wochenendausflüglern verantwortlich. Denn die Einwohner sind stolz auf ihre Community, die sich dort sicher und akzeptiert fühlt. "Es ist schön, man selbst sein zu können, ohne das Gefühl zu haben, in der Minderheit zu sein", sagt etwa Amy Mellis der BBC. "Die Kinder und Jugendlichen sind genauso, sie haben Freunde mit gleichgeschlechtlichen Eltern", berichtet Sean Pert der "Yorkshire Post". Beide leben in Hebden Bridge und führen gleichgeschlechtliche Beziehungen.
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"Man merkt, dass die Leute bei dem Thema sehr offen sind. Man muss keine Angst haben, dass man blöd angemacht wird, weil man Händchen hält oder dem Partner einen Kuss gibt", berichtet Jade Hudson aus ihren Gesprächen mit den Einheimischen. Sie selbst identifiert sich als heterosexuell. "Ländliche Gebiete sind nicht per se homophob", betont Sally Hines, Direktorin des Zentrums für interdisziplinäre Geschlechterstudien an der Universität von Leeds, im Gespräch mit der BBC. Dass ausschließlich Städte tolerant gegenüber der LGBTQ+-Community sind, sei ein Vorurteil. Sobald eine Gegend den Ruf erlangt hat, dass dort queere Menschen leben, zieht es immer mehr Gleichgesinnte dorthin, erklärt die Expertin. Sie spricht von einem kreisförmigen Migrationsmuster. Queere Menschen entscheiden sich also oft dafür, an Orten zu leben, von denen sie glauben, dass sie mehr Freiheit bieten – egal ob in der Stadt oder auf dem Land.
Ein Leben mit Überflutungsgefahr
Das Leben in der Gemeinde, "in der das Anderssein gefeiert wird", so schreibt es das Portal "Yorkshire Live", hat allerdings seinen Preis. Die Nachfrage nach Immobilien ist so hoch, dass Kauf- und Mietpreise in den vergangenen Jahren in die Höhe geschossen sind. Die "Financial Times" berichtete bereits 2016, dass die Immobilien mit einem Aufschlag von 26 Prozent im Vergleich zu anderen Ortschaften im Calder Valley verkauft werden. Die Lage im Tal ist zwar malerisch und friedlich, macht Hebden Bridge jedoch anfällig für Überflutungen. Im Sommer 2012 und im Winter 2015 erlebte die Kleinstadt zwei verheerende Überschwemmungen. Einheimische, die schon seit Jahrzehnten in Hebden Bridge wohnen – wie die Familie von Jade Hudson – seien an kleinere Fluten gewöhnt. "Das gehört für sie zum Leben dazu", erzählt sie. Ob das die Gemeinschaft näher zusammenschweißt?
Der "Gemeinschaftsgeist" ist es jedenfalls, den die Einwohner an ihrem Wohnort am meisten schätzen, so der Bericht der BBC. Die Einheimischen wirken fröhlich und aufgeschlossen, sagt Jade Hudson. "Es war eine freundliche, entspannte Atmosphäre, in der man einfach sein kann", findet sie. Kein Wunder also, dass die Kleinstadt als einer der besten Orte für diejenigen, die einen alternativen Lebensstil suchen, bekannt ist? "Das ganze Spektrum an allem, was man als Mensch sein kann, kann sich dort wohlfühlen", ist sich die 27-Jährige sicher.
Quellen: City Population, "Financial Times", "Huffington Post", "National Geographic", "The Guardian (I)", "The Guardian (II)", "Yorkshire Post", "Yorkshire Live"