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Oste-Region Amazonas hinterm Deich

Die große Freiheit liegt im Norden Deutschlands, so zwischen Hamburg und Bremerhaven. Das stille Osteland lockt mehr und mehr Besucher - eine Liebeserklärung.
Von Wolfgang Röhl

Eine nasskalte Februarnacht war es, als wir zu unserem neu erworbenen Landhaus am Fluss fuhren. Wir nahmen den Weg längs des Deiches, im Sommer voll schnatternder Radler. Im Winter besaß die Einsamkeit sibirische Ausmaße. Doch was war das? Eine schemenhafte Gestalt auf einem Rad kam uns auf Höhe des alten Schöpfwerks entgegen. Blick in den Rückspiegel – nichts. Schneeregen und Nebelschwaden hatten die Erscheinung verschluckt wie den Schimmelreiter in der Novelle von Theodor Storm. Aber es war ein Wesen aus Fleisch und Blut, wie wir bald erfuhren. Nämlich der alte H., vormals Kapitän und Eigner verschiedener Schiffe. Längst in Pension, doch niemals untätig, hatte er Kontrolle und Wartung des Schöpfwerks übernommen, welches das Wasser aus dem tief liegenden Marschland in den Fluss pumpte.

Das ist zehn Jahre her. Das Schöpfwerk wurde durch ein modernes, ferngesteuertes ersetzt. Der alte H. lebt noch. Ich erwähne ihn, weil er mir typisch vorkommt für die Menschen dieser Gegend. Zähe, verlässliche Leute, jeglichem Getue abhold. Der Typus stirbt zum Glück nicht aus. Man findet ihn auch unter den Jüngeren, die am Fluss nisten. Der Fluss ist 160 Kilometer lang, mündet bei Neuhaus in die Unterelbe und trägt den Namen Oste. Das spricht man Ohste. Oder Ooste. Keinesfalls Osste. Damit geht’s mal los. Es handelt sich um einen Sie-Fluss, wie Donau, Elbe, Seine. Auch das muss mal gesagt werden, denn die Ooste kennt kein Schwein. Und das ist gut so. Würden die Massen Wind davon bekommen, wie schilfwogend und nordseefrisch und wundergrün es im Osteland zugeht, sie würden ihre Mallorca-Tickets verbrennen und geschlossen an die Oste fahren. Der Fluss entspringt in der niedersächsischen Nordheide bei Tostedt. Das liegt nicht allzu weit von Dieter Bohlens Wohnort Tötensen, wo der Pöbeltitan regelmäßig von Räubern angefallen wird, wofür die Oste natürlich nichts kann. In Gesellschaft von Spechten, Reihern, Libellen und Teichhühnern plätschert sie munter durch birkenreiche Moore und mäandert ab Sittensen durch eine sandige Endmoränenlandschaft.

Nachwuchsprobleme - die Jugend wandert ab

Da ist sie noch ein handzahmer Bach, wie geschaffen für Ruderer und Paddler. "Amazonas für Einheimische", preisen ganz Verwegene den Wasserlauf, streckenweise von Bäumen und Sträuchern überwachsen. Kanuten setzen am liebsten in Weertzen ein und fahren mit der Strömung bis zur alten Wassermühle von Eitzte. Manche lieben besonders den Oberlauf mit seinen vielen Windungen und Erlen und den Kuhwiesen. Erst nach dem Wehr von Bremervörde wird die Oste, nunmehr eingedeicht, zum "Gewässer 1. Ordnung", zur Bundeswasserstraße. Ab hier untersteht sie dem Tidenhub der großen Schwester Elbe, letztlich also den Gezeiten der Nordsee. Bei Bremervörde sind Ebbe und Flut nur schwach zu spüren, doch je weiter flussabwärts man fährt, desto stärker wird die Strömung. Der Fluss ist abwechselnd nach beiden Richtungen in Bewegung. Zwischen auflaufendem und ablaufendem Wasser liegt ein halbes Stündchen trügerischer Ruhe ("Stauwasser"). Das ist die ideale Zeit zum Schwimmen. Oh ja, man kann wunderbar baden gehen in den sumpfbraunen Fluten.

Derart unverdorben - das ist die Kehrseite - geht’s immer dort zu, wo die Ökonomie am Boden liegt. Gilt auch für die Oste. Früher war sie Wirtschaftsschlagader des Marsch- und Geestlandes, wichtigster Verkehrsweg für Menschen und Waren. Alles Geschichte. Heute tuckern nur noch Freizeitkähne auf der Oste. Ferner der weiße, nostalgieträchtige, im schönen Oberndorf stationierte Ausflugsdampfer "Mocambo". Käpt’n Krock schippert im Sommer Touristen bei Kaffee und Kuchen hoch bis zur Flussmündung, wo sich - manchmal - Robben rekeln. Da auch das mit der Flut einströmende Elbwasser heutzutage Badequalität hat, kann man aus der Oste praktisch trinken. 20 oder mehr Fischarten tummeln sich im Fluss; manche, wie Lachs und Meerforelle, erst in den 90er Jahren von Anglervereinen wieder eingebürgert. An der Oste und ihren Nebenflüssen, ja, sogar an den Wettern - Entwässerungskanälen - wird fanatisch gefischt. Anglerklubs bilden zusammen mit Schützenvereinen, Sportvereinen und Freiwilligen Feuerwehren den sozialen Kitt des Flachlands. Allerdings haben alle Nachwuchsprobleme. Die Jugend wandert ab. Der Aderlass wird zu einem kleinen Teil durch Neusiedler kompensiert. Manche der schönen, historischen Häuser am Fluss wären unrettbar verkommen, hätten nicht Fremde sie gekauft und Geld hineingesteckt.

Die Medienmeute fliegt auf die Oste

Maler, Fotografen, Buchautoren, Schauspieler, Journalisten - die Medienmeute fliegt auf die Oste. Die Autorin Elke Loewe vom Rönndeich bei Hüll hat der Region mit Krimis und historischen Romanen sogar zu bundesweiter Bekanntheit verholfen. Die Eingesessenen haben freilich was gegen die Spezies der Wichtigtuer und Herrenreiter. Über einen Wochenendhäusler, der sich mit seiner jungen Begleiterin in einem schnieken Cabrio im Moor festgeigte, schließlich dreckverschmiert und vor Kälte bibbernd in einer Dorfkneipe um Treckerhilfe bitten musste, beömmeln sich herzlose Landeier noch heute. Auch Seitensprünge werden im kollektiven Gedächtnis der Marschländler so sorgsam archiviert wie die Erinnerung an die große Sturmflut vom Februar 62. Ja, die Eingeborenen. Ein Kapitel für sich. Ich kriege einen Hals, wenn ich norddeutsche Dörfer in Fernsehspielen sehe. Horte des Verbrechens, bevölkert von debilen, schurkischen Hinterwäldlern, die hinter einer Mauer sturen Schweigens Geheimnisse hüten und jede Menge Leichen auf dem Heuboden haben. Selbstredend sind Landeier nicht doofer als Städter, schon gar nicht krimineller. Auch die berüchtigte Maulfaulheit der Nordlichter ist eine Legende. "Bring Zeit mit!", sagt der Nachbar, wenn man sich ansagt.

Auf dem Ostedeich wandern, vorbei an schwarzköpfigen Schafherden (Obacht: die Böcke sind manchmal auf Krawall gebürstet) und Entengeschwadern, die im Schilfgürtel quaken. Segelboote und Kabinenkreuzer beobachten, den hohen Himmel und die rauschenden Pappeln und die wasserfarbenen Wolken genießen. Optische Genüsse, die von Künstlern immer hoch geschätzt wurden. Eine Malerkolonie zog um die vorletzte Jahrhundertwende von Cuxhaven ins Örtchen Neuhaus an der Ostemündung um. Künstler wie Karl Otto Matthaei (1863-1931) schufen norddeutsche Panoramen, deren Zauber real andauert, wie jeder Ostewanderer bezeugen kann. Und der in Osten geborene Maler Diedrich Rusch (1863-1959) hat dem Fluss wunderbare Denkmäler auf Pappe und Leinwand gesetzt. Die Bilder seines Heimatdorfes, mit einem Oste-Ewer im Vorder- und der großen, spitzgiebeligen Backsteinkirche im Hintergrund, enthalten immer einen Gag. Sie blenden nämlich die riesige, den Ort dominierende Schwebefähre, die vor rund 100 Jahren entstand, einfach aus. Rusch mochte das "Monstrum" nicht, und so geht es einigen Geschmäckern bis heute. Doch die eine Zeit lang eingemottete, dann mit viel Bürgerengagement und EU-Mitteln sanierte Fähre im Eiffel-Stil hat längst Ikonenstatus. Von ihrer Art gibt es nur noch wenige.

Hier geht sie ab, die große Freiheit!

Der spanische König Juan Carlos, Schirmherr historischer Schwebefähren, erteilte ihr seinen Segen. Seit sie wieder in Schwung gekommen ist, pilgern immer mehr Touristen nach Osten, um damit ans andere Ufer zu schweben. Programme wie "Fährienstraße" - eine Tour du Nord mit reichlich Flussquerungen - locken Besucher. Die ganze Region setzt jetzt auf Fremdenverkehr. Bisher floss die Touri-Knete hauptsächlich nach Cuxhaven, Deutschlands meistbesuchtes Seebad. Bis zum großen Besucherboom wird es noch etwas dauern. Noch gibt es zu wenig gute Hotels, und nur ein erstklassiges Restaurant, die "Oehlschläger-Stuben" im Wingster "Hotel Peter". Sie ist ein Geheimtipp, die Ostegegend. Was auch sein Gutes hat. In der Hochsaison, wenn sie an den Stränden von Cuxhaven wie Sardinen in der Dose lagern, sich auf der Timmendorfer Promenade auf die Zehen treten und auf ganz Sylt im Stau stehen, dann hat’s am braunen Fluss noch Platz ohne Ende. Hier geht sie ab, die große Freiheit! Wie sagt man auf dem Land, dem platten? "Dat hett sik annerswo man blot noch nich rümschnackt."*

*"Das hat sich andernorts bloß noch nicht rumgesprochen"

Tipps für das Osteland

Anreise

Aus dem Westen über Bad Bederkesa, Osten über Wischhafen, Süden über Stade.

Infos

Website www.oste.de (über Schwebefähre, Ferienhäuser, Angeln, Wassersport, Veranstaltungen sowie über die 250 Kilometer lange Fährstraßen- Route zwischen Bremervörde und Kiel).

Besuchen

Bremervörde: Ausgangspunkt für Wanderungen und Radtouren an der oberen Oste. Estorf-Gräpel: handgezogene Seilfähre. Hemmoor: berühmt-berüchtigter, 60 Meter tiefer Tauchersee, www.kreideseetaucher.de; Zementmuseum am Kreidesee (nur im Sommer).

Osten:

Schwebefähre und Buddelmuseum, Am Markt 5, geöffnet nur am Wochenende; Osten-Website: www.osten-oste.de.

Oberndorf:

Restaurantschiff "Ostekieker", Tel.: 04772/81 48; Ausflugsdampfer "Mocambo", www.oste-schifffahrt.de, Tel.: 04772/86 10 84).

Neuhaus/Oste:

Privatbrauerei Alt Neuhaus, Bei der Kirche 1, Tel.: 04752/84 10 33, Kunst und Kram – Galerie am alten Hafen, Am Schleusenplatz 6. Naturkundliches Museum "Natureum" an der Ostemündung (www.natureum-niederelbe.de).

Gut essen und schlafen

Hotel Peter

, Bahnhofstraße 1, 21789 Wingst, Tel.: 04778/279; www.flairhotel.com/Peter (mit "Oehlschläger Stuben");

Ferienpension Berthof

, Wriethstraße 28, 21755 Hechthausen-Kleinwörden, Tel.: 04774/99 20 30; www.berthof.de;

Oste-Hotel

, Neue Straße 125, 27432 Bremervörde, Tel.: 04761/87 60, www.oste-hotel.de;

Gaststätte Zum Osteblick

, Zum Hafen 21, Gräpel, Tel.: 04140/87 74-0,www.zum-osteblick.de

Lesen

Die Oste

, Elke Loewe/Wolf-Dietmar Stock, Verlag Atelier im Bauernhaus, Fischerhude, 18 Euro.

Der Milchkontrolleur

, Thomas B. Morgenstern, Krimi, Medien Contor Elbe, 10,90 Euro.

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