Schneekönige im Harz Vier Freunde und ihr rituelles Wintercamp

Von Andreas Wenderoth
Sie sind ehemalige Pfadfinder, Heavy-Metal-Fans und beste Freunde. Zu Viert gehen sie jeden Winter zelten. Damit das Wochenende ausfällt, müsste schon die Hölle zufrieren. Aber so kalt wird es zum Glück im Harz dann doch nicht.

Seit letztem Jahr nehmen sie die Klampfe wieder mit. Thomas spielt absolut vorzeigbar und Christoph war früher Gitarrist in mehreren Heavy-Metal-Bands. Sie singen ihr Repertoire aus Pfadfinderzeiten, natürlich Metallica und Iron Maiden, und so genannte "Quatschnummern". Eine Quatschnummer ist, wenn man zum Beispiel versucht, "Bolle reiste jüngst zu Pfingsten" auf den Gitarrenriff von Jethro Tulls "Locomotive Breath" zu singen. "Wer damit nicht groß geworden ist, hat daran auch keinen Spaß", sagt Christoph. "Aber wir finden's halt geil."

Thomas, Paul, Bernhard und Christoph. Vier nicht mehr ganz junge Jungs aus dem Harz - beste Freunde seit ihren Pfadfinderzeiten. Drei von ihnen sind auf das gleiche Gymnasium gegangen. Christophs Vater war Bernhards Lehrer und auch der von Thomas. Mittlerweile sind sie selbst alle über 40, haben mitunter schon mehrfach geheiratet und zusammengerechnet immerhin fünf Kinder (vielleicht kommt bald sogar ein sechstes Kind dazu, weil Thomas und seine Frau gerade versuchen, eines aus Haiti zu adoptieren). Normalerweise rasen sie durch ihr Leben, haben volle Terminkalender und fordernde Berufe mit jeder Menge Unwägbarkeiten. Aber einmal im Jahr kehren sie in der Sicherheit ihrer alten Rituale zurück. Dann steht die Zeit für drei Tage still.

In die Glut des Feuers starren

Seit 27 Jahren fahren sie jeden Winter an den Ort, der sie schon als 15-Jährige begeistert hat und spüren den Zeiten nach, in denen das Leben noch wie ein großes Versprechen vor ihnen lag. Ein schwer einsehbares Plateau am Rande eines aufgelassenen Steinbruchs in der Abgeschiedenheit eines verschneiten Kiefernwaldes irgendwo im Harz. Wo genau darf man nicht sagen, denn wildes Camping ist in Deutschland zu ihrem völligen Unverständnis (in skandinavischen Ländern ist es ja auch möglich) immer noch verboten: Dabei achten sie peinlich darauf, dass die Natur nicht unter ihnen leidet, jedes Fitzelchen Müll wird am Ende mitgenommen. "Wir würden uns ja ins eigene Fleisch schneiden."

Sie kennen das Gelände fast auswendig. "Das ist unsere Scholle", sagen sie und richten sich im Wald ein. Hantieren mit Karabinerhaken, Umlenkrollen und Handsägen. Bauen ihre altes Pfadfinderzelt auf, machen Holz, ein prasselndes Feuer, und starren in die Glut, während von draußen der Frost an den Zeltwänden nagt und etwas mit ihnen macht: Plötzlich spüren sie wieder die Kraft und Stärke der Natur. Müssen sich mit der Kälte auseinandersetzen, der Dunkelheit, den Widrigkeiten des Wetters. Wie eine tiefe Meditation.

Einmal Pfadfinder, immer Pfadfinder

Aber es ich auch ein Schalter, den man leichtgängig umlegen kann. Der ihnen einen Besuch in der Vergangenheit ermöglicht und direkt zurück in ihre Jugend führt.

Natürlich betrachten sie diese durch die Brille der Erwachsenen. Sie können sie die Zeit festhalten, verklären, wenn ihnen danach ist und - das ist der besondere Reiz - auch aus der Gegenwart speisen. Indem sie sich ihrem Alter scheinbar ganz ungemäß verhalten und sich auf dieses im Grunde doch kindische Spiel einlassen. Erwachsen und doch immer noch ein bisschen Huckleberry Finn. Einmal Pfadfinder, immer Pfadfinder; Teil dieser größten Jugendbewegung der Welt, die Freude an der Natur, aber auch Verantwortungsbewusstsein lehrt. Ein Abenteuerspielplatz neben ihrem richtigen Leben, allerdings ganz fest darin verankert. "Und es ist so einfach", sagt Bernhard. Aber man muss es wollen.

Früher haben sie immer Listen geschrieben, wer was mitbringen muss. Mittlerweile machen sie sich diese Mühe nicht mehr, auch deshalb, weil es schön ist, die anderen zu überraschen. Und immer genug da ist, damit alle satt werden. Bernhard fängt immer schon zwei Monate vorher an, alles zu sortieren und vorzubereiten. Das andere Extrem ist Thomas, der immer erst am Reisetag packt und dabei meistens die Hälfte vergisst. Was Bernhard natürlich bis zu einem gewissen Grad ausgleichen kann, da er vorsorglich vieles doppelt mitnimmt. Bernhard mag es auch ein bisschen häuslicher, deshalb und weil er morgens nicht mit Socken auf dem nassen Waldboden stehen möchte, bringt er immer auch einen Teppich mit. Und natürlich seine elektrische Zahnbürste, für die er sich zuverlässig einen Spruch fängt, aber das ist ja auch der Zweck der Sache. Käme der nicht, würde irgendwas fehlen.

Jeder hat seinen Stammplatz zum Schlafen

Beim Aufstieg zum Plateau gibt es eine sehr steile, glitschige Stelle, die sie vor vielen Jahren, leicht heroisierend, "Hillary-Step" getauft haben, weil so der letzte Anstieg vor dem Gipfel des Mount Everest heißt. Um die Sache etwas zu erleichtern (und auch die Verletzungsgefahr zu verringern) haben sie im Sommer einfach ein paar Treppenstufen aus Holz eingesetzt.

Nach etwa eineinhalb Stunden steht das Zelt. Dann richten sie ihre Schlafplätze ein und  bauen die Lagermöbel auf. Natürlich hat jeder seinen Stammplatz. Das Zeltlager ist leicht abschüssig. Oben auf der Kuppe ist, der bessern Übersicht wegen, schläft Bernhard (vielleicht auch deshalb, weil es ja sein Zelt ist). Die anderen liegen rechts und links und unten. Im Tal sozusagen. Eigentlich ist es schon immer so gewesen. Und deshalb bleibt es auch so.

Vormittags das erste Bier

Normalerweise steht Bernhard um 7.30 Uhr als erster auf und heizt ein. Dann wacht Christoph auf und macht Kaffee, bevor sich Paul dem Omelette widmet. Bald nach dem Frühstück wird Holz gemacht. Dazu müssen sie ein paar bis zu zehn Meter hohe, tote Fichten fällen, mit Säge und Beil zerlegen und am Feuer trocknen, so dass das Holz spätestens am Abend gut brennen kann. Noch am Vormittag wird das erste Bier gezischt, und dann gibt es schon bald wieder Mittagessen. Jedes Mal Spaghetti mit Unmengen Knoblauch, die traditionellen Kartoffelpuffer und gebackenen Camembert, ebenfalls in Knoblauch. Oder ist es Knoblauch mit Camembert?

Übernommen aus:

"Walden", Heft 2/2015, ab sofort für 7,50 Euro am Kiosk. 

Jedes Mal nehmen sie sich vor: Weniger Fett, weniger Kohlenhydrate, keine Nudelorgien. Aber spätestens am Ende des ersten Tages brechen ihre Vorsätze dann wieder zusammen. Letzten Februar sogar schon ein bisschen früher. Denn da haben sie sich zum ersten Mal an einem "Schokofondue" versucht. Trockenfrüchte, die eingetunkt werden in geschmolzene Schokolade. Ideal als zweites Frühstück und natürlich auch wieder der Versuch, etwas zu machen, was gar nicht an so einen Ort passt (und gerade deshalb großen Spaß macht). "Total surreal", sagt Christoph.

"Jedem, dem ich das erzähle, erzählt Bernhard, "sagt: geil, so etwas würde ich eigentlich auch gerne machen." Nur, dass es außer ihnen niemand tut. Vielleicht mal eine Zeit lang, aber meist schläft es dann doch irgendwann ein. Ihnen kann das nicht passieren, weil sie um den besonderen Wert jener Tage wissen, die niemand von ihnen missen mag. Gut, einmal haben sie um einen Monat verschieben müssen. Aber im Grunde ist jedem klar, dass er sich das erste Februarwochenende im Jahr freihalten muss. Weil es da am kältesten ist (also auch am wenigsten nass), und unnötige Besucher unwahrscheinlich sind. Wer treibt sich bei so einem Wetter schon im Wald herum?

Die vollständigen Text "Schneekönige" finden Sie in "Walden", Heft 2/2015, ab sofort für 7,50 Euro am Kiosk.

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