EM 2024 Hurra, die Schotten sind da!

  • von Frank Hellmann
Fröhlich, friedlich, trinkfest: Schottische Fans Anfang dieser Woche in der Innenstadt von München
Fröhlich, friedlich, trinkfest: Schottische Fans Anfang dieser Woche in der Innenstadt von München
Kurz vor dem Eröffnungsspiel gegen Deutschland ist der Enthusiasmus der schottischen Fans ansteckend – und die neue Qualität der Nationalmannschaft nicht ohne Risiko für die Deutschen.

Wenn es einen Menschen gibt, in dem sich vor dem EM-Eröffnungsspiel zwischen Deutschland und Schottland in München (Freitag, 21 Uhr im ZDF) beide Nationen vereinen, dann wohl der in Garmisch-Partenkirchen lebende Schotte Andrew Syme. In der bayrischen Gemeinde mit ihren gepflegten Fachwerkhäusern am Fuße des Wettersteingebirges kennt ihn jeder. Und das nicht nur, weil der 52-Jährige dieser Tage gerne ein schottisches Nationaltrikot und einen echten Schottenrock trägt, jenes gemusterte Tuch, an dem sich der Clan der schottischen Heimat ablesen lässt.

Schotte in Bayern: "Für mich geht ein Traum in Erfüllung"

Andrew Syme stammt aus Aberdeen und prägend war für ihn dieZeit, als der FC Aberdeen unter dem Trainer Alex Ferguson eine große Nummer in Europa war. "Es ist unglaublich. Für mich geht ein Traum in Erfüllung", erzählt Syme (sprich: seim), der vor mehr als drei Jahrzehnten nach Deutschland kam, hier drei Kinder groß zieht. Nachdem er sich bei einer Europa-Reise in die Region die Region um Garmisch verliebte, kam er für einige Winter zum Kellnern in den Wintersportort, ehe er ganz sesshaft wurde.

Gastronom Andrew Syme, 52, freut sich riesig auf das Eröffnungsspiel: "Es ist schon ein Erfolg, dass wir überhaupt dabei sind!"
Gastronom Andrew Syme, 52, freut sich riesig auf das Eröffnungsspiel: "Es ist schon ein Erfolg, dass wir überhaupt dabei sind!"
© Frank Hellmann

"Als ich gehört habe, dass die Europameisterschaft in Deutschland ist, war mein erster Wunsch, dass es Schottland überhaupt schafft. Dann die Gruppe mit Deutschland: Besser geht es gar nicht. Dazu noch Eröffnungsspiel! Und als dann im November Gerüchte aufkamen, dass die Schotten auch noch nach Garmisch kommen, dachte ich: Das ist zu viel." Nun ist es aber Wirklichkeit: Die Bravehearts haben mit ihrer Delegation am vergangenen Wochenende ein schönes Hotel am Tor der Alpen bezogen. Für einen ihrer größten Anhänger fühlt sich das an "wie ein Sechser im Lotto". Bei der Ankunft sprach der "bayrische Schotte" persönlich mit einigen schottischen Nationalspielern. Er schaffte es in ein Youtube-Video von der Tourismus-Behörde Garmisch-Patenkirchen. Auch einen Podcast gab es schon.

Dass die Schotten überhaupt dabei sind, gilt als Erfolg

Denn der Familienvater betreibt am Osterfelderkopf, einem Nebengipfel an der Alpspitze, ein Restaurant: Beim Trainingsauftakt der schottischen Nationalmannschaft im "Stadion am Gröben" schaute er aus der ersten Reihe zu und erzählte vor einer Schottland-Fahne seine Geschichte. "Uns geht es nicht darum, zu gewinnen", sagte der begeisterte Bergläufer und Skitourengeher. Viel wichtiger sei es für ihn und seine vielen von der Insel anreisenden Landsleute, sich bei dieser EM von ihrer besten Seite zu zeigen. "Es ist schon ein Erfolg, dass wir überhaupt dabei sind – jetzt wollen wir unser Team feiern!"


Wie die meisten seiner Landsleute hat auch er kein Ticket. Andrew Syme hatte sich allerdings auch gar nicht beworben: "Für mich und meine Familie hätte es mehr als 1000 Euro gekostet. Das war mir zu teuer." Er will im Kurpark von Garmisch-Partenkirchen zuschauen, aber die meisten aus der berühmten "Tartan Army", wie die schottische Armada genannt wird, die ihren Lieblingen fast überall hin folgt, werden natürlich in der bayrischen Landeshauptstadt sein. Die Anhängerschaft gilt als besonders reisefreudig, friedlich, fröhlich und trinkfest.

Geschätzte 200.000 Fans in München

Der Schottische Fußball-Verband (SFA) verbreitete im Medienzentrum im Eissportzentrum sogar die Nachricht, dass bis zu 200.000 Fans kommen könnten. Assistenztrainer John Carver fand die Vorstellung solcher Massen in München inspirierend. "Diesen Einfluss wollen wir für uns nutzen. Und damit wir uns wohlfühlen, haben wir das schlechte Wetter mitgebracht", witzelte der gebürtige Engländer. Überhaupt ist die Offenheit und Unbeschwertheit dieser Delegation ansteckend. Als eine Trachtengruppe beim Empfang zu Dudelsack-Klängen tanzte, huschte sofort Nationalspieler John McGinn mit auf die Bühne im Bayernzelt. Wenn das Team ungefähr so gut Fußball spielt, wie der 29-Jährige von Aston Villa den Schuhplattler tanzte, dann hat die DFB-Auswahl viel Arbeit. Zu verlieren hat der deutsche Gegner schon mal gar nichts.

Gut gelaunte Frau unter anderen schottischen Fußballfans
"Yes, Sir, I can boogie", das meint die Dame aus Schottland sicher ernst – Fans des Nationalteams am vergangenen Mittwoch in München
© Simon Stacpoole

Die schottischen Funktionäre sollen bei der ersten Besichtigung des Quartiers unterhalb der Zugspitze berührt vom Panorama gewesen sein. Der höchste deutsche Berg war an jenem Tag gut zu erkennen, die Sonne schien auf den Sportplatz des Landesligisten 1. FC Garmisch-Partenkirchen, wo gewöhnlich der zwölfjährige Sohn von Andrew Syme kickt. Beim öffentlichen Training waren viele Kinder und Jugendliche auf der putzigen Holztribüne, sie kreitschten auf Ansage. Niemand wird jedoch am Freitag in der Arena in Fröttmaning eine besondere Durchsage machen müssen, um die Schotten anzufeuern.

Deutschland-Trainer Nagelsmann: "Sie sind deutlich besser, als man es erwarten würde"

"Die Schotten habe ich häufig gesehen. Sie sind deutlich besser, als man es von außen erwarten würde, vor allem deutlich besser, was das Fußballerische angeht", sagte Bundestrainer Julian Nagelsmann über Deutschlands ersten Gegner. "Gegen Spanien haben sie 2:0 gewonnen. Es ist keine klassische schottische Kick-and-Rush-Mannschaft mehr. Sie haben im März zwar 0:4 gegen die Niederlande verloren, wenn man dieses Resultat nimmt, dann kann man falsche Schlüsse ziehen. Denn eigentlich haben sie die Niederlande an die Wand gespielt, es war ein verrücktes Spiel."

EM: REEL TALK mit Jana Wosnitza, Laura Wontorra und Laura Papendick
EM: REEL TALK mit Jana Wosnitza, Laura Wontorra und Laura Papendick
Werder, Weißbier und die Nationalmannschaft – EM-Talk mit Jana Wosnitza, Laura Wontorra und Laura Papendick

Nun haben die Testspiele, ein mühsames 2:0 gegen Gibraltar, dann ein 2:2 gegen Finnland nicht unbedingt Angst und Schrecken erzeugt, aber zu unterschätzen ist der Kontrahent eben auch nicht. Schottland wird vor allem körperlich viel mehr Gegenwehr leisten als Costa Rica bei der WM 2006 an gleicher Stelle. Zehn vergebliche Anläufe auf EM- und WM-Endrunden hatte diese Fußball-Nation hinter sich, ehe der 2019 angetretene Nationaltrainer Steve Clarke den Bann brach. Vielleicht hätte sein Team schon bei der letzten EM etwas bewirkt, wenn nicht die Einschränkungen durch Corona gewesen wären. Statt im Sommer 2021 rauschende Festtage im vollbesetzten Hampden-Park zu feiern, erlebten nicht mal 10.000 Besucher bei den Heimspielen gegen Tschechien (0:2) und Kroatien (1:3) ernüchternde Lehrstunden. Da half zwischendrin der Achtungserfolg gegen Erzrivale England (0:0) in Wembley wenig.

Ob die Schotten ein Stück Geschichte schreiben?

Clarke bekommt Lob von vielen Seiten. "Er hat einen sehr guten Spirit geschaffen und die Mannschaft auf Anhieb zur EM 2021 geführt", schrieb Dortmunds Champions-League-Sieger Paul Lambert in einem Gastbeitrag fürs DFB-Journal. "Schottland hat, das lässt sich ohne Übertreibung sagen, die stärkste Mannschaft seit Jahren." Die Gründe sind vielfältig: Die schottischen Klubs, allen voran die Aushängeschilder in Glasgow, die Rivalen Celtic und Rangers, ihre Nachwuchsarbeit deutlich verbessert. Zum anderen sind viele der aktuellen Nationalspieler aus dem Alltag der Premier League gestählt. "Natürlich wird es für uns schwierig, im ersten Spiel gleich gegen Deutschland zu spielen. Der Druck eines Eröffnungsspiels, das vor ganz großer Kulisse stattfindet, das ist Deutschland mehr gewohnt als wir", sagte Clarke. "Dennoch haben wir eine realistische Chance, um für eine Überraschung zu sorgen."  Seine Mannschaft sei schließlich fantastisch: "Wir haben eine Chance, ein Stück Geschichte zu schreiben. Lasst uns schauen, ob wir es schaffen."

Fußballer macht ein kompliziertes Ball-Manöver mit dem linken Bein
Andrew Robertson beim Training für das Freundschaftsspiel gegen Finnland, Anfang Juni in Glasgow
© Steve Welsh


Der Coach mit der Glatze arbeitete als Assistent in Klubs wie Newcastle, Chelsea, West Ham und Liverpool, dort sogar mit der schottischen Legende Kenny Dalglisch zusammen. Der 60-Jährige gilt als Perfektionist, der im Training mit einer Kappe auf dem Kopf und einer Kladde in der Hand ständig an Verbesserungen tüftelt. Einer, der für alles einen Plan ausheckt. So musste Ryan Christie vom AFC Bornemouth immer wieder Freistöße üben: Der 1,78 Meter große Wirbelwind soll vermutlich als Joker bei einem Rückstand kommen – und dann per Standard treffen.

Andrew Robertson gilt als verlängerter Arm des Trainers

Clarke ist pragmatisch veranlagt, wird gewiss keinen Hurra-Fußball verordnen, sondern erstmal ein Bollwerk errichten, um den Deutschen den Spaß zu rauben. Einer seiner Schlüsselspieler ist Andrew Robertson vom FC Liverpool, der in einem 5-4-1-System die linke Seite beackert, rauf- und runterrennt und mit seiner Erfahrung viel Einfluss ausübt. Der 30-Jährige gilt als der verlängerte Arm eines Trainers – doch am meisten hat Robertson von Jürgen Klopp profitiert. Als der gebürtige Schwabe kürzlich an der Anfield Road verabschiedet wurde, floss beim schottischen Kapitän nicht nur eine Träne. "Es war eine besondere Reise mit ihm. Er war immer für mich da – er hat mich als Spieler und Mensch besser gemacht."

Davon hat auch sein Nationalcoach Clarke profitiert. Unter dem ehemaligen Rechtsverteidiger des FC Chelsea ist insbesondere durch die EM-Qualifikation eine besondere Begeisterung entstanden, die viel auch mit Scott McTominay von Manchester United zu tun. Der Mittelfeldmann traf plötzlich siebenmal, nachdem ihm zuvor bloß ein Länderspieltreffer geglückt war. "Er verfügt über Übersicht und hat einen Torriecher", lobt Lambert den 27-Jährigen, der seit Kindesbeinen für die Red Devils kickt.

Schwarz-weiß Bild zweier Fußballer in schottischer Tracht
Kann man im Schottenrock Fußball spielen? Franz Beckenbauer (links) und Gerd Müller konnten es, bei der Qualifikation der Weltmeisterschaft 1969
© imago sportfotodienst

In Schottland ist er inzwischen ein Nationalheld. McTominay erreichte mit einem Video zur Sensation gegen Spanien (2:0) bei Instagram mehr Aufrufe (5,7 Millionen) als Schottland Einwohner hat (5,2 Millionen). Nicht auszudenken, was der erstmalige Einzug ins Achtelfinale auslösen würde. Bislang wusste die Fangemeinde bei einem Turnier eigentlich immer, dass ihre Postkarten länger nach Haus brauchen würden als die Mannschaft selbst. Jetzt allerdings soll der eine oder andere schon geschaut haben, wo denn ein Achtelfinale steigen könnte. Andrew Syme aber blickt erstmal nur aufs Eröffnungsspiel. Sein Tipp? "Ich hoffe auf ein 0:0. Damit wäre ich schon zufrieden."

PRODUKTE & TIPPS

Kaufkosmos