Glosse Kleinlaut in die Schlacht

Von Rüdiger Barth
Die letzte EM in Portugal veränderte die deutsche Fußball-Geschichte, nur ahnte vor dem Turnier keiner was im deutschen Quartier an der Algarve. Eine Zeitreise von Rüdiger Barth, der 2004 für den stern Rudi Völlers Team begleitete.

Sind dies nicht schrecklich zähflüssige Tage, die letzten Tage vor einem Turnier? Und es geht allen so. Den Spielern, denen die Beine kitzeln, den Trainer, denen der Kopf brummt, den Fans zu Hause, die wenigstens schon mal üben können, sich zu bemalen und zu betrinken. Und wie warmer Teer sind diese Tage vor der ersten Schlacht auch für die Journalisten, die die Nationalmannschaften umlagern.

Was das Turnier wohl bringen mag?

Nun ist der wahnwitzig große Reporter-Tross also auch in Ascona, Schweiz, darunter zwei Gesandte des stern. Was dieses Turnier den Deutschen wohl bringen mag, darüber rätseln selbst die Routiniers: den ersehnten Triumph, die Aufnahme der Löwschen Philosophie in die bundesdeutsche Verfassung, für Ballack die Krönung, für Löw selbst einen Rentenvertrag? Oder schmähliches Scheitern, ewige Verdammnis, Euch-wollen-wir-nie-wieder-sehen, Otto-jetzt-musst-doch-du-ran?

Die deutschen Reporter sind ein wenig kleinlaut geworden. Es hat sie das rechte Gefühl verlassen. Zur Heim-WM waren die Schwächen der Nationalelf für nüchterne Betrachter offensichtlich, allein, die Spieler scherten sich nicht darum.

Vor der letzten EM wiederum, Portugal 2004, da vertrauten die meisten Experten auf die wundersamen Kräfte des großen Rudi Völler. Hatte der nicht zwei Jahre zuvor bewiesen, dass seine kumpelhafte Art, sein dosiertes Training exakt die richtigen Methoden waren für diese Mannschaft, müde von einer langen Saison? Ein Team, das behütet werden musste, gewiss nicht angestachelt?

Bibbernd nach Portugal

2002 hatte Völler seine bis zuletzt belächelte Elf ins WM-Finale geführt. Doch die Vorbereitung auf die EM begann Ende April mit dem 1:5 in Rumänien, das Land stand unter Schock. Die deutsche Abwehr, das war die Sorge, würde ein Witz sein. Dann beruhigte man sich, 7:0 gegen das mächtige Malta, 2:0 in der Schweiz. Nur nagte das abschließende 0:2 gegen Ungarn, auf dessen Bank ein gewisser Lothar Matthäus saß.

So fuhren die Deutschen damals nach Portugal, mehr bibbernd als hoffend, nur auf eines vertrauend: Dass es Rudi Völler richten würde. Keiner, der wachen Sinnes war, zweifelte daran, dass Völler die Elite des Landes dabei hatte, dazu junge Kerle wie Lahm, Schweinsteiger, Podolski, und den richtigen Ton finden würde und selbstverständlich bald bei der Heim-WM 2006 das Beste aus dem leider rückständigen deutschen Fußball holen würde.

Die Deutschen bezogen also ihr lauschiges Quartier an der Algarve, und wenn sie übten, übten sie manchmal so: Zehn Mann schnappten sich einen Ball, legten ihn sich jeweils an der Strafraumgrenze zurecht und donnerten ihn nacheinander aufs von Oliver Kahn gehütete Tor. Ballkontakte pro Mann in der Minute: 0,7. Das war mal ein Training.

Hoffentlich keine Packung

Aber immer noch dachten wir wie viele Reporter: Das sind halt Fußballer, die wissen schon, was nötig ist. Es kamen die zähflüssigen Tage vor dem ersten Spiel. Man war sich einig: Wenn es gegen Holland keine Packung gab, wäre noch alles drin.

Vor jenem ersten Match in Porto fluteten mittags Zehntausende in Orange und Weiß durch die Altstadt am Douro und tranken friedlich Bier in der prallen Sonne, es war ein schöner Tag, und abends standen die Deutschen überraschend sicher, Wörns und Nowotny wichen nicht zurück, Frings fummelte gar einen Freistoß ins Tor. Deutschland führte gegen den Favoriten, das Prinzip Rudi griff.

Doch spät wechselte der Bundestrainer Fabian Ernst ein, und Fabian Ernst verlor den Ball an der Seitenlinie, van Nistelrooy brachte die Spitze seines großen Zehs früher an den Ball als Wörns die seine, Holland glich aus, und danach ging alles schief, Mayer-Vorfelder musste einen Trainer suchen, Jürgen Klinsmann ließ ihn Klinsmann finden, und was dann geschah, das ist, nun ja, Geschichte.

Hatte es jemand kommen sehen?

Hatte es einer vor der EM kommen sehen? Das frühe Aus, Völlers Rücktritt? Nach dem 1:2 gegen Tschechiens Reserve, auf dem trüben Nachhauseweg von Lissabon hinunter an die Küste, sagte ein befreundeter Kollege: "Ich bin mir nicht sicher, ob Völler weitermacht."

Wir widersprachen energisch. Weit nach Mitternacht saßen wir auf unserer Terrasse und tranken zwei Abschiedsschlucke und hatten vor, prächtig auszuschlafen. Es weckte uns das Handy, der DFB lud zur Pressekonferenz.

Ein anderer befreundeter Schreiber, er arbeitet bei einer nicht unbekannten Zeitung, sagte ein paar Wochen später: "Unsere Leser wissen, ganz ehrlich, immer noch nicht, was Rudi Völler eigentlich falsch gemacht hat."

Joachim Löw hat Fabian Ernst nicht nominiert, natürlich.

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