Als das EM-Viertelfinale gegen Spanien abgepfiffen wurde am Abend des 5. Juli 2024, war dies der Beginn tränenreicher Stunden für die Spieler der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. 1:2 verloren, durch ein Tor von Mikel Merino in der letzten Minute der Verlängerung. Beim Bundestrainer dauerte die Trauer sogar noch bis weit in den nächsten Tag an. Mit brüchiger Stimme hielt Julian Nagelsmann im Team-Camp in Herzogenaurach eine Rede, die als Liebeserklärung an seine Mannschaft verstanden werden durfte. Die EM sei nur der Anfang einer Entwicklung, sagte Nagelsmann, er glaube fest an seine Spieler. Jetzt gelte es, den Blick auf das WM-Turnier im Jahr 2026 zu richten. Nagelsmann schloss trotzig mit den Worten: "Wir wollen Weltmeister werden."
Heute, ein Jahr und vier Monate später, ist nicht mehr viel übrig geblieben von jenem EM-Team, das doch Deutschlands Zukunft hätte sein sollen. Nur acht Spieler aus dem 26er-Kader von 2024 stehen im Aufgebot für die beiden WM-Qualifikationsspiele gegen Luxemburg am Freitag (20.45 Uhr, RTL) und die Slowakei am kommenden Montag (20.45 Uhr, ZDF). Dass Nagelsmann sich für neues Personal entschieden hat, kann nur zum Teil mit den Verletzungen von Stammkräften wie Jamal Musiala, Kai Havertz und Antonio Rüdiger erklärt werden. Im Herbst 2025 ist Nagelsmann ein Bundestrainer auf der Suche. Er setzt auf Erkenntnisgewinn durch Experimente; er glaubt, dass er sein WM-Team findet, indem er verschiedene Konstellationen ausprobiert auf dem Feld.
Julian Nagelsmann sieht Schwächen auf den Flügelpositionen
Nagelsmanns Versuche finden allerdings unter Ernstfallbedingungen statt. Das DFB-Team muss beide Qualifikationsspiele gewinnen, um als Gruppensieger sicher bei der WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko dabei zu sein. Womöglich genügt auch ein Unentschieden gegen die punktgleichen Slowaken; das wird sich am Freitag klären, wenn die Slowakei gegen Nordirland spielt.
Neu im DFB-Kader ist Said El Mala, geboren 2006 in Krefeld, in der Bundesliga am Ball für den 1. FC Köln. El Mala kann auf den Erfahrungsschatz von nur neun Erstligaspielen zurückgreifen – in denen ihm allerdings vier Tore und eine Vorlage gelungen sind. Nagelsmann sagte am Montag in Wolfsburg, wo die Nationalmannschaft sich derzeit auf die Länderspiele vorbereitet: "Ich bin kein Freund von extrem frühem Hypen und Hochpushen", doch diesen El Mala wolle er "mal in der Gruppe sehen" und beobachten, wie er sich im Training präsentiere.
El Malas kometenhafter Aufstieg zu einem DFB-Kaderspieler liegt nicht nur in dessen starken Leistungen begründet, er ist auch Ausdruck einer chronischen Schwäche der Nationalmannschaft auf den Flügelpositionen. "Wir sind da nicht so stark besetzt", räumte Nagelsmann ein, "wir haben nicht viele Spieler, die von außen mit Druck in die rote Zone ziehen."
Die rote Zone, das ist in Nagelsmanns Diktion der gegnerische Strafraum. Dort passierte in den letzten beiden Länderspielen tatsächlich wenig Aufregendes. Beim 1:0-Sieg gegen Nordirland in Belfast drückte Nick Woltemade den Ball mit der Schulter ins Tor, wenige Tage zuvor quälte man sich lange gegen das kleine Luxemburg, das ab der 20. Minute in Unterzahl spielte, bevor es am Ende 4:0 für Deutschland hieß. Nagelsmann wünscht sich nun weniger "Sucht nach Kontrolle" in der Offensive und mehr ungestümen Sturm und Drang.
Neue Chance für Leroy Sané
In diesem Licht ist auch die Berufung von Leroy Sané zu sehen. Zu den vergangenen beiden Länderspielen im Oktober war Sané nicht eingeladen worden; Nagelsmann war unglücklich mit dessen Wechsel von Bayern München zu Galatasaray Istanbul. Das Niveau der türkischen Süper Lig hält der Bundestrainer für nicht herausfordernd genug für einen A-Nationalspieler. Jetzt ist Sané seltsamerweise wieder dabei.
Nagelsmann treibt die Not auf den Flügeln zu unkonventionellen Maßnahmen. Sané hat schon viele Chancen in der Nationalmannschaft bekommen. Bereits die Bundestrainer Löw und Flick bestaunten sein Talent, seinen explosiven Antritt, sein unwiderstehliches Tempodribbling, aber keiner von beiden vermochte es, ihm seine Launenhaftigkeit auszutreiben. Sané schafft es problemlos, in einem Spiel Weltklasseleistungen zu zeigen und im nächsten komplett unterzugehen. So viel Wankelmut ist keinem Trainer geheuer, auch Nagelsmann nicht. Daher sprach er am Montag öffentlich eine Ermahnung an Sané aus: "Es gibt unter meiner Führung nicht mehr so viele Chancen für ihn, sich zu beweisen."
Sané wird gegen Luxemburg und die Slowakei also liefern müssen, wie das im Branchenjargon heißt. Ansonsten steht ein junger Mann namens El Mala bereit, der mit der Nationalmannschaft nur allzu gern auf Amerikareise gehen würde im nächsten Sommer.