Mister Johnson, erst kürzlich ist bekannt geworden, dass auch Ihr großer Konkurrent Carl Lewis positiv getestet wurde - im Vorfeld der Olympischen Spiele in Seoul 1988. Freut Sie das?
Na ja, ich bin froh, dass jetzt der Druck von mir genommen worden ist. Jetzt weiß jeder, dass man Lewis gleich mit mehreren Substanzen erwischt hatte. Aber seine Befunde lagen immer unterhalb der strafbaren Grenzwerte. Verschwiegen worden ist es trotzdem. Nur mich haben sie an den Pranger gestellt - und mir die Medaille genommen.
Und Ihren Weltrekord. Erst 2002 lief Tim Montgomery aus den USA die 100 Meter mit 9,78 Sekunden eine Hunderstel schneller als Sie. Nun soll auch er zugegeben haben, dass er sich systematisch gedopt hat. Ein US-Leichtathlet nach dem anderen wird überführt. Eine späte Genugtuung für Sie?
Ach, es weiß doch ohnehin jeder, dass die schon immer etwas schluckten. Aber der US-Verband hat seine Athleten geschützt. Die Amerikaner schießen das meiste Geld in die Leichtathletik. Denken Sie allein an die US-Fernsehsender. Der ganze Sport, vor allem bei Olympia, ist komplett amerikanisch dominiert. Und es gab immer einflussreiche Leute, die gesagt haben: Wenn ihr uns Amerikaner ausschließt, dann ziehen wir unser Geld zurück.
Haben Sie dafür Beweise, oder mutmaßen Sie das nur wie viele andere auch?
Natürlich ist das schwer zu beweisen.
Immerhin sind die Kontrollen in den USA verschärft worden. Und es schaut nicht so aus, als würde heute weniger gedopt als früher.
Nein, das wird sich nie ändern. Die Verbände locken mit Riesen-Jackpots, schon bei Juniorenmeisterschaften. Die Funktionäre sind nicht blöd. Die wissen, wie man die nächste Sportlergeneration hungrig macht. Und solange die Jungen Hunger nach dem großen Geld haben, werden sie alles dafür tun. Die Verbände führen zwar Kontrollen durch, aber in Wahrheit signalisieren sie: "Wir wollen gar nicht wissen, was ihr macht, nur wenn wir euch dabei erwischen, bestrafen wir euch."
Wie kommen Sportler zum Doping? Wie begann das bei Ihnen?
1982 sagte mein Trainer Charlie Francis zu mir: "Du bist ziemlich schnell, du könntest eine große Zukunft vor dir haben. Aber weißt du, es gibt viele Jungs dort draußen, die betrügen. Wenn du nicht mitmachst, wirst du nie ein Sieger sein." Ich hab zuerst gezögert. Ich war 20. Ich war kein Wissenschaftler, sondern nur ein Bursche, der lief. Aber dann dachte ich: Warum soll ich mir den Arsch aufreißen, und diese Jungs arbeiten weniger und kommen davon? (lacht)
Wie schnell hätten Sie ohne Drogen laufen können?
Das kann ich nicht sagen. 1981 bin ich 10,25 gelaufen. Und danach ja eigentlich ständig unter Doping.
Wurden Sie gewarnt vor den Gefahren?
Ich habe nur bekommen, was der Körper auch vertragen kann. Und die Ärzte haben gesagt: "Pass auf, nimm so und so viel und trinke keinen Alkohol dazu." Das ist doch wie bei jedem normalen Medikament.
Aber Florence Griffith-Joyner, der große weibliche Sprintstar von Seoul, starb mit 38 Jahren. Wahrscheinlich als Folge ihrer vermutlichen Doping-Vorgeschichte.
Als wir von Flo-Jos Tod hörten, waren wir nicht völlig überrascht. Du kannst dich nicht so schnell innerhalb eines Jahres verbessern wie sie. Sie lief die 100 Meter 1987 noch in 10,96 Sekunden, dann ein Jahr später in 10,49. Wir alle ahnten, dass da noch große Probleme auf sie zukommen würden.
Es ist also doch nicht so ungefährlich.
Sagen wir so: Man darf es nicht missbrauchen. Aber das wirklich Gefährliche ist Epo. Da bekommst du einen Pulsschlag, der ist so langsam, der liegt schon fast bei null. Bei manchen der Ausdauersportler, die Epo nehmen, geht abends die Tür zu, und am nächsten Morgen liegt der Typ tot im Bett. Die meisten haben deshalb neben sich ein Laufband stehen. Manche stehen dann um drei Uhr nachts auf und laufen 25 Minuten, damit der Herzschlag wieder hochgeht. Das hat mir Charlie Francis erzählt, mein alter Trainer.
Der soll jetzt auch wieder heimlich im Geschäft sein. Früher nannte man ihn Charlie, den Chemiker. Haben Sie ihm und Ihren Ärzten damals komplett vertraut?
Ja. Dein Trainer sagt dir, was du tun sollst. Dein Arzt versorgt dich mit Medikamenten, schaut, dass alles gut dosiert ist und dir keine Langzeitschäden bleiben. Mein Job war es dann nur, so schnell wie möglich zu laufen.
Ist das allgemein so in der Leichtathletik? Alles basiert auf Vertrauen, auch das Dopen?
Ja. Sobald man sich Gedanken über andere Dinge als das Laufen macht, vergeudet man Energie.
Hatten Sie nie Angst, erwischt zu werden?
Nein. Ich wollte nur rennen und siegen. Alles andere war Nebensache.
Wird Siegen dann zur Sucht?
Klar. Ist es doch für jeden in dieser Welt. Siegen und Geld machen. Und vielleicht noch eine schöne Frau bekommen.
Bereuen Sie nichts?
Doch, eines bereue ich: dass ich es in Seoul auf den letzten Metern habe auslaufen lassen. Wäre ich bis zum Schluss voll durchgesprintet, hätte ich 9,72 geschafft. Aber ich wollte mir noch etwas für spätere Rennen aufheben.
Daraus ist ja nichts geworden. Sie haben alles verloren.
Ich kann nichts verlieren, was ich nicht hatte. Die Goldmedaille hab ich ja nur ein paar Stunden gehabt. Am Montag in der Nacht klopfte es an der Tür: "Wo ist die Medaille?" - Ich habe gesagt: "In meiner Tasche. Nehmt sie, wenn ihr wollt." (lacht)
Haben Sie damit gerechnet?
Meine Mom hatte mir vor dem Rennen gesagt: "Ben, da passiert irgendwas." Sie spürte das. Das ist so eine spirituelle Sache. Und wissen Sie was: Meine Mutter hat meistens Recht. Sie hatte mir gesagt, ich solle aufpassen, wo ich esse und trinke.
Behaupten Sie etwa noch immer, dass Ihnen jemand etwas ins Essen oder in ein Getränk gemischt hat?
Mein Arzt Jamie Astaphan sagte mir damals, er habe mir nichts gegeben, was in einem Dopingtest hätte auftauchen können. Sie fanden Stanozolol in der Urinprobe. Aber das habe ich niemals genommen. Ich weiß heute noch nicht, wie das da rein gekommen ist und wer das gemacht hat. Ich kann nur raten. Die wollten mich aus dem Geschäft haben.
Wer?
Da geht es doch um den Einfluss auf dem Weltmarkt. Um Sponsoren. US-Firmen wollten den Sportmarkt für sich, aber ich bin für andere Sponsoren gestartet. So läuft das. Ich habe gehört, dass dann wiederum einer meiner Sponsoren nach dem positiven Test mit einem großen Scheck zum Präsidenten des IOC gegangen ist. Aber da war es schon zu spät, die Information war irgendwie zur Presse gelangt.
Das hört sich ziemlich bizarr an …
Bizarr? Schauen Sie: Ich wurde bei allen großen Meetings vor Seoul getestet. Und nie hat man etwas gefunden, auch nicht bei der WM in Rom, wo ich mit 9,83 Sekunden Weltrekord gelaufen bin. Ein Jahr darauf haben sie dann ihren positiven Test, und sie nehmen mir auch meinen alten Rekord. Die sind Ankläger, Polizei und Richter in einem.
War das Rennen in Seoul der größte oder der furchtbarste Moment in Ihrem Leben?
Es war der größte Augenblick. Egal, was danach kam. In meinen Herzen habe ich noch immer die Goldmedaille.
Jetzt wollen Sie sich noch einmal beweisen. Ihr Manager plant einen großen Schaulauf mit allen Teilnehmern des Finales von 1988. Warum sollte man das Skandalrennen noch einmal sehen wollen?
Es war das größte Rennen aller Zeiten. Die ganze Welt will es noch einmal sehen. Carl Lewis und ich, das war Leichtathletik, wie sie sein sollte. Diese große Rivalität. Unglaublich. Die versuchten ja seitdem immer wieder, diesen Glanz in diesen Sport zurückzubringen. Aber es ist nie gelungen. Dieses Rennen war einzigartig.
Auch durch den Hass zwischen Ihnen und Carl Lewis.
Ich hasste ihn nicht. Auf der Bahn, da war er natürlich mein Feind. Mit all diesen Dingen, die er damals über mich sagte, trieb er mich an, so schnell zu sein wie nur möglich.
Geht es jetzt wieder ums Siegen?
Ja. Es wäre großartig, der Welt zu zeigen: Ich bin immer noch der Beste - mit 42! Ich trainiere sechs Tage die Woche dafür. Und wissen Sie was: Mein Antritt ist noch genauso schnell wie vor 16 Jahren. Mom hat immer gesagt: "Ben, es gibt noch ein großes Rennen für dich!" Ich hab geantwortet: "Mom, ich glaube, diesmal irrst du dich." Aber sie hatte wieder Recht.
Und der Sieger des Rennens soll zwei Millionen Dollar bekommen. Es heißt, Sie wären bankrott gewesen, nach 1988 …
Die Zeitungen haben damals viel geschrieben, was nicht stimmte. Das meiste von meinen Prämien ist doch sowieso an den Kanadischen Leichtathletik-Verband geflossen. Die haben meine Finanzen mitverwaltet. Wenn ich mal ein Auto wollte, sagten sie: "Ben, du hast doch schon einen Wagen und ein Haus."
Und wovon leben Sie heute?
Ich reise, ich arbeite als Trainer. Ich habe zum Beispiel vier Jahre für die Libyer gearbeitet, als Fitnesstrainer der Fußballnationalmannschaft und von Gaddhafis Sohn. Nette Leute dort. Eine sympathische Kultur. Nur die Leibwächter gingen mir auf den Wecker.
Interview: Michael Streck/Bernd Volland