Was sieht Jan Ullrich, wenn er morgens in den Spiegel schaut? Er kann nur das Gesicht eines Lügners sehen, eines Mannes, der offensichtlich mit betrügerischen Mitteln versucht hat, auf Kosten seiner Konkurrenten Siege zu erreichen und die damit verbundenen Prämien und Sponsorengelder einzustreichen. Wie lebt man zwischen Unwahrheiten und Ausflüchten, wenn immer mehr Indizien und Beweise zusammen getragen werden und der Kreis derer, die einem glauben, schrumpft und schrumpft?
Die Manipulationsvorwürfe der Ullrich-Anwälte haben keinen ernstzunehmenden Hintergrund, sind nicht mehr als eine billige Verteidigungsstrategie. Richtig ist, dass bisher auch das Vorhandensein von Ullrichs Blut keinen Beweis für die Anwendung von Dopingmitteln darstellt. Aber die Indizienkette schließt sich Stück für Stück. Nachdem der Beweis erbracht ist, dass die Blutbeutel im Labor des Dopingarztes Dr. Fuentes von Jan Ullrich stammen, ist der Weg nicht mehr weit, um die Bezeichnungen auf den Bestell- und Lieferlisten von Dr. Fuentes zu entschlüsseln. Die letzten "Erfolge" von Jan Ullrich, der spektakuläre Etappensieg beim langen Zeitfahren des Giro und der Gesamtsieg bei der Tour de Suisse 2006, könnten direkt auf die Lieferungen von Dr. Fuentes zurückzuführen sein.
Ullrichs einzige Chance: Auspacken
Für Jan Ullrich kann es nur noch einen Ausweg geben, wenn er jemals den Respekt der Öffentlichkeit und - viel wichtiger - seinen Selbstrespekt zurückgewinnen will: Er muss auspacken, im Extremfall sogar eine Gefängnisstrafe in Kauf nehmen. Wichtige unbeantwortete Fragen liegen auf der Hand: Wann hat er damit angefangen? War sein Toursieg von 1997 sauber? Oder fing es schon früher an, in den DDR-Jugendteams oder beim Gewinn des Amateur-Weltmeistertitels 1993? Welche (verhängnisvolle) Rolle spielte Rudy Pevenage, sein väterlicher Freund und Kontaktmann bei Dr. Fuentes? Was wussten die anderen Fahrer, Ärzte, Betreuer, Teamleiter von T-Mobile? Ullrich könnte und sollte als Kronzeuge des Radsports gegen das Doping auftreten, in dieser Rolle könnte er wieder gesellschaftsfähig sein
Der Verdacht, dass all die, die im Sommer fluchtartig (und mit offen proklamierter Sympathie für Ullrich) zum dubiosen kasachischen Team Astana gewechselt sind, zumindest davon gewusst haben, liegt nahe. Zumal insbesondere Andreas Klöden und Matthias Kessler auch als persönliche Freunde von Ullrich gelten oder galten. Das Kapitel Ullrich ist im deutschen Sport abgeschlossen, gegenüber seinen Freunden und Trainingspartnern gilt natürlich die Unschuldsvermutung, doch dürfte es nichts schaden, zukünftig ein wachsames Auge auf Astana zu haben.
Ein neuer Ullrich? Hoffentlich nicht!
Die Begeisterung der sportinteressierten Öffentlichkeit sollten sich auf die jungen deutschen Fahrer der Topteams T-Mobile, Milram und Gerolsteiner richten, die versuchen, den Beweis anzutreten, dass auch ohne verbotene Mittel Topleistungen im Radsport möglich sind. Die drei Teams verfolgen die konsequenteste Anti-Doping-Politik der Sportgeschichte, diese neue Fahrergeneration mit Namen wie Markus Fothen, Stefan Schumacher (beide Gerolsteiner), Marcus Burghardt, Gerald Ciolek oder Patrick Sinkewitz (alle T-Mobile) wird für positive Schlagzeilen im deutschen Radsport sorgen. Vor Jahresfrist hätte man noch gefragt, ob einer von ihnen das Zeug zu einem "neuen Ullrich" habe - aus heutiger Sicht kann man nur antworten: Hoffentlich nicht!
Wenn es eine Lehre gibt aus der Geschichte von Jan Ullrich, dann sicherlich die Botschaft, dass kein noch so großer Erfolg Doping rechtfertigt und die Bewunderung und der Respekt der Fans nur dem sauberen Sieger gelten. Der Radsportfan sieht lieber einen sauberen Zweiten als einen zweifelhaften Sieger, gerade das machte ja lange Zeit den Mythos Ullrich aus. Der Fall dieses einstigen Idols, hinter dessen Erfolge man nun ein dickes Fragezeichen setzen muss, sollte Botschaft und Warnung für den deutschen Sport sein, nicht nur für den Radsport, sondern auch für andere "bedrohte Sportarten" wie Skilanglauf, Leichtathletik oder Schwimmen.