Wimbledon Schüttler träumt vom Finale

Es ist sein Sportmärchen des Jahres: Ausgerechnet in Wimbledon feiert der Deutsche Rainer Schüttler eine denkwürdige Wiedergeburt. Vier Jahre hatte er im Tennis-Niemandsland verbracht, auf kleinen Turnieren gespielt und viel zu oft in den ersten Runden verloren. Jetzt steht er im Halbfinale des wichtigsten Tennisturniers der Welt - und fordert einen Unbesiegbaren.

Als er nach Wimbledon gekommen war, hatte er sich gewünscht, wenigstens ein Spiel zu gewinnen. Jetzt steht er im Halbfinale und kann es kaum glauben. Nicht in seinen kühnsten Vorstellungen hätte Rainer Schüttler, 32, daran zu denken gewagt, nach vielen Monaten der Enttäuschungen und Rückschlägen in Wimbledon den größten Erfolg seiner Karriere nach dem Einzug ins Finale der Australian Open 2003 zu feiern.

"Mehr kann man in 24 Stunden nicht erleben

Doch die Zahlen sind der Beweis. Mit 6:3, 5:7, 7:6, 6:7, 8:6 hat er den Franzosen Arnaud Clement niedergerungen. Es war in jeder Hinsicht ein denkwürdiges Spiel. Eines von der Art, wie es sie nur in Wimbledon gibt. Ein Drama in vier Akten, unterbrochen von einer Nacht und zwei Regenpausen, begonnen am Mittwochabend gegen sieben, beendet am Donnerstag fast 24 Stunden danach. Reine Spielzeit fünf Stunden und zwölf Minuten und damit in der Liste der längsten Spiele Wimbledons auf Platz zwei gelandet. Ein Spiel voller Licht und Schatten. Hinterher sagte Schüttler: "Mehr kann man in 24 Stunden nicht erleben - zumindest auf dem Tennisplatz nicht".

Große Worte, von einem, der die großen Gesten nicht so mag. Und Übertreibungen schon dreimal nicht. Das Geheimnis seines unverhofften Siegeszugs auf dem heiligen Rasen von Wimbledon hatte er schon nach dem Zweitrunden-Match gegen James Blake verraten: "Ich hab's geschafft, im entscheidenden Moment einen Schritt zuzulegen“.

Nach dem Hoch folgte der Absturz

Genau dieser eine Schritt – manchmal waren es auch anderthalb oder zwei – hatte zuletzt immer gefehlt. Man erinnert sich an Schüttlers großes Jahr. Obwohl er damals schon zu den besten 40 der Weltrangliste gehörte, überraschte er, als er im Januar 2003 bei den Australian Open im Finale landete. Aber fast noch eindrucksvoller war die Konstanz in den danach folgenden Monaten. Bei jedem der Grand-Slam-Turniere erreichte er das Achtelfinale, gewann kurz hintereinander den dritten und vierten Turniertitel seiner Karriere und qualifizierte sich überzeugend für das Turnier der besten Acht am Jahresende, den Masters Cup in Houston. Und da, im Reich eines texanischen Matratzen-Millionärs, hätte er fast das Finale erreicht, wenn, ja wenn ihm nicht im Halbfinale gegen Andre Agassi bei einem Aufschlag der Schläger aus der Hand gefallen wäre.

Mit diesem fallenden Schläger begann der Gegenschwung. Im Jahr darauf erreichte Rainer Schüttler zwar seine höchste Position in der Weltrangliste, Nummer 5, aber im Gegensatz zu 2003 fehlte ihm die Konstanz, und einzelne Erfolge täuschten nicht über ein grundsätzliches Problem hinweg. Oft genug scheiterte er ausgerechnet an seiner Arbeitsmoral. Wenn es ihm nicht gut ging und es sinnvoll gewesen wäre, ein paar Tage Pause zu machen, dann legte er eine Extra-Schicht ein, um die Steigerung zu erzwingen. Und im Spiel wich er in den Momenten, in denen er 2003 dem Ball noch mutig entgegen gegangen war, einen Schritt zurück.

Das letzte Aufsehen erregende Ereignis in der Karriere des engagierten und akribischen Arbeiters war das Doppel-Finale bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen, das mit der Silbermedaille für ihn und Partner Nicolas Kiefer endete und mit einem Foto, auf dem die beiden angesichts der vergebenen Matchbälle im Finale aussahen, als stehe der Untergang der Welt unmittelbar bevor.

Zwischen Wimbledon 04 und Wimbledon 08 gewann Schüttler bei allen Grand-Slam-Turnieren zusammen genau drei Spiele, verschwand 2005 zum ersten Mal aus den Top 100 der Weltrangliste, und je länger die Phase der fehlenden Erfolge dauerte, desto deutlicher wurde die unausgesprochene Frage, wie lange er sich das noch antun wolle.

Krasser Außenseiter gegen Nadal

Die Antwort dürfte nach dem Match gegen Clement deutlich schwieriger geworden sein. Vor allem der nervenaufreibende vierte Akt dieses außergewöhnlichen Tennisspiels wird Schüttler nicht so schnell vergessen. 6:6 hieß es im fünften Satz, bei Aufschlag Clement kam es nach einer einstündigen Regenunterbrechung beim Stand von 40:40 zum finalen Showdown. "Wir wussten beide, innerhalb von fünf Minuten kann alles vorbei sein", meinte Schüttler später. Er nahm Clément dessen Aufschlag ab, ging 40:15 in Führung, vergab die ersten beiden Matchbälle, aber mit dem dritten setzte er den Schlusspunkt unter die in jeder Hinsicht verrückte Partie.

Schüttler reckte die Arme in den Himmel und war wunschlos glücklich in diesem Moment. Und er ist fest entschlossen, sich auch von den eindeutigen Zeichen vor dem Halbfinale heute gegen Rafael Nadal nicht entmutigen zu lassen. So wie alle anderen weiß auch er, dass er gegen den bisher so unfassbar starken Spanier nicht mehr als ein krasser Außenseiter ist. Dennoch ist er entschlossen, das Spiel zu genießen. „Ich hoffe, ich kann noch mal fünf Sätze spielen." Das war dann doch eher als Scherz gemeint, wie seiner Miene zu entnehmen war.

PRODUKTE & TIPPS

Mehr zum Thema