Die nackte Panik kann Deutschlands bekanntester Bewerbungstrainer bei seinen Seminarteilnehmern jedes Mal ganz deutlich fühlen. "Alle haben sie Angst, bald zum alten Eisen zu gehören", berichtet Jürgen Hesse. Es ist die Furcht, im Alter den Job zu verlieren - es ist die Angst vor Hartz IV. Dem endgültigen Absturz. Da ist es doch beruhigend, wenn jemand wie SPD-Chef Kurt Beck zumindest den Aufprall dämpfen will: Das Sprungtuch, das Beck besorgten Arbeitnehmern spannen will, ist das Arbeitslosengeld I, kurz ALG I genannt. Ältere Arbeitslose sollen länger Geld aus der Arbeitslosenversicherung beziehen dürfen, bevor sie auf Hartz-IV-Leistungen heruntergestuft werden. Bislang beträgt das ALG I bis zu 67 Prozent des früheren Nettolohnes (bei Steuerklasse 1 aber höchstens knapp 1800 Euro) und wird ein Jahr lang ausgezahlt, ab dem 55. Lebensjahr 18 Monate lang. Beck will die Auszahlungsdauer verlängern: Ab 45 sollen es 15 Monate sein, ab 50 dann 24 Monate.
Die Kosten schätzt der SPD-Chef auf 800 Millionen Euro. Eine sozial sinnvolle Investition sei das, argumentiert Beck, schließlich hätten es ältere Arbeitslose schwerer, eine Stelle zu finden, und seien stärker von Armut bedroht. Erstmals seit Langem stößt der SPD-Chef mit einer politischen Forderung auf breite Zustimmung. Gewerkschaften und Linkspartei nicken zufrieden. Sogar Kanzlerin Angela Merkel stellte sich nach langem Zögern an die Seite Becks. Es klingt ja auch gerecht: Wer länger einzahlt, bekommt im Notfall mehr. Das Problem ist bloß: Der Beck-Vorstoß ist falsch. Es lohnt sich, die Zahlen und Zusammenhänge genau anzuschauen. Fünf Thesen gegen den Populismus:
Die Angst vor Altersarbeitslosigkeit ist übertrieben
Tatsächlich waren die Chancen für ältere Arbeitnehmer schon seit Jahren nicht mehr so gut wie heute. Arbeitsminister Franz Müntefering, der sich seit Wochen gegen den Beck-Vorschlag wehrt, lieferte in seiner Regierungserklärung vergangene Woche dazu die Zahlen: Fast eine Viertelmillion über 50-Jährige sind in den vergangenen neuneinhalb Monaten zusätzlich eingestellt worden. Und laut Bundesagentur für Arbeit sinkt die Erwerbslosenquote der "50-Plusser" sogar schneller als der Bundesdurchschnitt. Aus "alten Eisen" sind im Slang der Personalchefs "Best Agers" (Arbeitnehmer im besten Alter) geworden, deren Erfahrung wieder zählt. So beschäftigt die Zeitarbeitsfirma Manpower heute doppelt so viele Ältere über 50 wie vor drei Jahren. Geschäftsführer Thomas Reitz geht davon aus, "dass sich der Anteil 2007 weiter erhöhen wird". Nicht nur in der Zeitarbeit die nach eigenen Gesetzen (hohe Flexibilität, meist geringere Bezahlung) funktioniert. Personalexperten sehen einen grundlegenden Wandel zugunsten älterer Arbeitnehmer. So haben Konzerne wie BASF Programme entwickelt, um ihre "Silberfüchse" länger fit zu halten.
Nicht das Alter, sondern die Ausbildung entscheidet über Job oder Arbeitslosigkeit
"Mein Alter habe ich nie als Handicap empfunden", sagt Rainer Bollmohr. Früher hat der 64-Jährige als Banker gearbeitet, heute ist er als selbstständiger Berater und Fachmann fürs Kreditkartengeschäft gefragt. Bollmohr ist Mitglied der Initiative "Erfahrung Deutschland", einer Plattform für ältere Experten, die Unternehmen ihr Know-how für einzelne Projekte günstig verkaufen. Fünf Kunden betreut Bollmohr derzeit, zwei weitere sind interessiert. "Ich bin ausgebucht", sagt er stolz. Doch nicht nur Ex-Manager haben am Arbeitsmarkt eine Chance. Das beweist der Fall von Leonard Rempel. "Ich habe keine Angst wegen meines Alters", sagt der gebürtige Russlanddeutsche, "ich fühle noch viel Kraft in mir." Rempel ist 58, gelernter Dreher, studierter Maschinenbauingenieur - und die Rettung für Horst Brucke, den Prokuristen der "Heinrich Schulte Söhne GmbH". Der mittelständische Traditionsbetrieb im sauerländischen Arnsberg verchromt und schleift unter anderem Walzen für die Papierindustrie. Anfang dieses Jahres brauchte Brucke dringend einen Experten für seine Schlosserei - und fand Leonard Rempel. "Ein exzellenter Fachmann", lobt der kaufmännische Leiter, "einer, der zügig und aufgrund seiner Erfahrung selbstständig arbeitet." Dass der Landkreis Rempels Anstellung mit bislang knapp 11.000 Euro bezuschusse, sei nicht so wichtig gewesen.
Wichtiger als das Alter ist die Dauer Der Arbeitslosigkeit
Martin Weiland hat sich eine doppelt schwierige Klientel ausgesucht: Menschen zwischen 45 und 64 Jahren und seit mehr als einem Jahr ohne Beschäftigung galten bislang als unvermittelbar. Das will Weiland ändern. Er ist Referatsleiter im Bundesarbeitsministerium und leitet das Projekt "Perspektive 50plus" - ein Netz von bundesweit über 60 Projekten. Alle verfolgen das Ziel, ältere Arbeitslose zu vermitteln. Im Hochsauerlandkreis etwa werden vor allem 48- bis 55-Jährige auf neue Jobs vorbereitet. In Bremen will man die Unternehmen davon überzeugen, ihre Arbeitnehmer länger im Betrieb zu behalten. In Frankfurt wirbt man bei Personalchefs mit den Vorzügen neuer, aber zugleich älterer Angestellter. In den vergangenen zwei Jahren wurden so bereits Jobs für 20 000 Personen gefunden. In der nächsten Projektphase von 2008 bis 2010 will Weiland weitere 50.000 vermitteln. Seine Erkenntnis: "Das Alter an sich ist kein Problem mehr, sondern die Langzeitarbeitslosigkeit." Denn je länger ein Arbeitnehmer aus dem Job ist, desto schwieriger wird seine Rückkehr. Dann fehlen die neuesten EDVKenntnisse oder das Selbstwertgefühl hat schon einen Knacks bekommen. Das kann auch Bewerbungsexperte Jürgen Hesse bestätigen: "Ein Jahr wird von den Unternehmen meist noch akzeptiert. Aber Gnade dem, der länger arbeitslos ist." Den Vorschlag von Kurt Beck, das Arbeitslosen- geld I länger auszuzahlen, sieht Hesse daher skeptisch: "Ich verstehe die Sorgen der Betroffenen, aber klar ist: Wer mehr Geld vom Staat kriegt, ist weniger flexibel."
Die Politik hat uns das Problem eingebrockt – und sie wiederholt alte Fehler
SPD-Chef Beck verschweigt, dass die Arbeitslosenversicherung nur für den Notfall gedacht ist. Sie ist kein Sparvertrag, auf den man einen Anspruch hat. Doch genau dieses Missverständnis hat die Politik selbst geschaffen. Seit den 70er Jahren hat sie die Anreize erhöht, früh aus der Arbeit auszusteigen, um Platz zu schaffen für die nachdrängende Generation der Babyboomer. Man verabschiedete Vorruhestands- und Altersteilzeitgesetze und verlängerte die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere auf maximal 32 Monate. Die Unternehmen spielten mit und entließen immer mehr Menschen in die Frührente. Ältere Mitarbeiter akzeptierten die Kündigung ohne Murren und wurden mit ALG I abgefunden. Ihr ehemaliger Arbeitgeber übernahm die Differenz zum alten Gehalt. Die Folgen dieser Vorruhestandskultur beschreibt eine Studie der Deutschen Bank: Die Erwerbsquote 60- bis 64jähriger Männer sackte in Westdeutschland von 78 Prozent Mitte der 60er Jahre auf nur noch 33 Prozent im Jahr 1985 ab. "Gezahlt haben für diese Frühaussteiger allerdings die noch arbeitenden Beitragszahler", sagt Hilmar Schneider, Arbeitsmarktexperte am Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA). Er ist überzeugt, dass erst die Hartz-Reformen mit der kürzeren ALG-I-Bezugsdauer die Frühverrentungspraxis gestoppt haben. "Die Erwerbstätigenquote der Älteren hat binnen dreier Jahren von 40 auf 50 Prozent zugelegt." Nicht nur potenzielle Frührentner reagieren auf die Reformen, sagt Joachim Möller, Chef des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB): "Auch ältere Arbeitslose bemühen sich viel früher und intensiver um eine neue Stelle." Sein IZA-Kollege Schneider ärgert sich: "Diesen Effekt macht Beck wieder kaputt."
Für zu viel Hilfe zahlt jeder - möglicherweise mit dem eigenen Job
"Man muss den Leuten vorrechnen, was sie für diesen Unfug zahlen", sagt Arbeitsmarktexperte Schneider. Denn wenn das Arbeitslosengeld länger gezahlt wird, muss mehr in die Kasse kommen. Schneiders Rechnung zufolge verteuert ein längeres ALG I den Beitragssatz auf jeden Fall um etwa 0,7 Prozentpunkte. Ein Durchschnittsverdiener und sein Arbeitgeber (die Versicherung wird zur Hälfte von der Firma gezahlt) müssten 22 Euro mehr pro Monat in die Arbeitslosenversicherung einzahlen. "Damit werden bis zu 100.000 neue Arbeitsplätze verhindert," schätzt Schneider. "Denn je höher die Sozialbeiträge, desto eher gibt es Entlassungen oder Einstellungsstopps." Ließe sich dagegen der Missbrauch von ALG I als Frührente ganz stoppen, könnten die Beiträge um mehr als zwei Prozent sinken - und etwa 200.000 neue Stellen entstehen. Auf dem Gehaltskonto eines Durchschnittsverdieners wären das 31 Euro mehr als bisher im Monat. Die eingesparten Beiträge könne dann jeder privat verwenden - zum Beispiel für die Rente.