Stagnierende Wirtschaft, überbordende Staatsschulden und mehr als 14 Millionen Arbeitslose: Die Europäische Union wartet auf den Aufschwung. Die EU-Staats- und Regierungschefs wollen deshalb an diesem Donnerstag (16. Oktober) bei ihrem Gipfeltreffen in Brüssel ein klares Signal geben. Mit einer milliardenschweren Wachstumsinitiative werden die "Chefs" versuchen, mehr Schwung in die Wirtschaft zu bringen. Dazu sollen vor allem Forschung und Entwicklung angekurbelt werden sowie grenzüberschreitende Verkehrs- und Spitzentechnikvorhaben.
Deutschland und Frankreich am Defizit-Pranger
"Die Bürger haben den Eindruck, in Brüssel wird nur über Prozente beim Staatsdefizit gestritten, ob es 2,9 Prozent sind oder 3,1", seufzt ein Diplomat. Mit der Initiative werde eine neue Richtung eingeschlagen. Bundeskanzler Gerhard Schröder und der französische Staatspräsident Jacques Chirac gaben am Sonntag in Paris schon einmal die Richtung vor. Im beginnenden Aufschwung dürfe es nicht zu harte Schritte gegen die Staatsverschuldung geben. Deutschland und Frankreich stehen wegen ihrer hohen Neuverschuldung allerdings am Brüsseler Defizit-Pranger, es drohen in letzter Konsequenz Milliardenbußen.
Uneinigkeit über Finanzierung
Alle Mitgliedstaaten stehen hinter dem Wachstumsplan. Meinungsverschiedenheiten gibt es allerdings über den Zuschnitt der Vorhaben und deren Finanzierung, zudem gibt es Ungereimtheiten. Die italienische EU-Ratspräsidentschaft preschte zum Amtsantritt im Juli mit einem Papier voran. Sie stellte große Verkehrsvorhaben wie die gigantische Brücke über die Straße von Messina in Süditalien in den Mittelpunkt. Berlin und Paris folgten im September mit einem eigenen Vorschlag, in dem sie eine stärkere Berücksichtigung von Forschung und Entwicklung forderten.
Italien setzt auf Verkehr
"Graue Zellen statt Beton", hieß es mit leichtem Spott auf die Italiener. Anfang Oktober schließlich präsentierte EU-Kommissionspräsident Romano Prodi seinen Vorschlag: Allein 220 Milliarden Euro bis zum Jahr 2020 für riesige Verkehrsprojekte wie eine Zugverbindung zwischen Berlin und Sizilien.
Brenner-Basis-Tunnel nur auf dem Papier
Kritiker wenden gegen den Prodi-Vorschlag ein, es werde im alten Technokratenstil geklotzt. Selbst die Kommission warnte in einem früheren Papier aus Umweltschutzgründen davor, eine Autobahn von den bulgarischen Hauptstadt Sofia aus an die griechische Grenze zu bauen. In dem neuen Prodi-Vorschlag taucht diese Verbindung jedoch wieder auf. Bulgarien dürfte nach bisherigen Plänen gegen 2007 EU-Mitglied werden. "Transeuropäische Netzwerke" wurden schon vor zehn Jahren vom damaligen Industriekommissar Martin Bangemann propagiert. Nur drei von elf Vorhaben wurden verwirklicht, darunter die Öresund-Brücke zwischen Dänemark und Schweden. Das bisher wichtigste Projekt, den Brenner-Basis-Tunnel, gibt es nur auf dem Papier.
"Wer soll das bezahlen?"
"Wer soll das bezahlen?", lautet eine weitere Frage angesichts von Milliardenkosten. Nettozahler in die EU-Kasse wie Deutschland sagen, es solle kein Euro zusätzlich fließen. Die magische Formel heißt: Umschichtungen in den bestehenden Haushalten zu Gunsten von Wachstumsfeldern. Zudem soll der Privatsektor einspringen, nicht nur beim Bau und der Finanzierung von Vorhaben, sondern als auch Betreiber. Bundesfinanzminister Hans Eichel verspricht sich davon einen "großen europäischen Mehrwert".
EU-Zwischenbericht gibt nur vage Kosten an
In einem Zwischenbericht, den die EU-Finanzminister vor dem Gipfel verabschiedeten, gibt es zu den Kosten nur relativ vage Äußerungen. Die Europäische Investitionsbank (EIB), die Hausbank der EU, könnte bis 2010 rund 90 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Falls die Statuten der Bank geändert würden, seien zusätzliche Kreditlinien von insgesamt 70 Milliarden Euro möglich. Weiter heißt es: "Derzeit sind verfügbare Informationen über die Auswirkungen der Initiative auf die nationalen Haushalte und das EU-Budget spärlich." Die Finanzminister der nordischen Länder erklärten bereits, die Wachstumsinitiative dürfe nicht im Konflikt mit den Verpflichtungen des Euro-Stabilitätspaktes stehen. Der italienische "EU-Vorsitz" scheint das Vorhaben eher praktisch zu sehen: Auf seiner Internetseite wird fürs Investieren in Bella Italia geworben.