In Deutschland hat das Trinkgeld eine jahrhundertealte Tradition. Schon im 14. Jahrhundert taucht es auf Rechnungen auf und hat seitdem immer wieder für Debatten gesorgt: Kann eine Entlohnung nur aus Trinkgeld bestehen? Sollte ein ausreichender Mindestlohn nicht die Idee an sich obsolet machen? Welche Branchen dürfen es überhaupt einfordern? Oder ganz aktuell: Wie viel Trinkgeld ist eigentlich angemessen?
Ausgelöst wurde diese Diskussion in den USA. 15 bis 20 Prozent Trinkgeld seien hier völlig ausreichend, hieß es bislang immer. Die Realität sah zuletzt aber anders aus. Denn schon während der Corona-Pandemie hatten sich die US-Amerikaner sehr spendabel gezeigt. Daten von Finanzapps zeigen, dass die Trinkgelder beispielsweise in New York von dort sonst durchschnittlichen 19 Prozent auf ganze 25 Prozent stiegen.
Die Pandemie ging vorbei, aber das Trinkgeld stieg weiter. Ein Wort für das Phänomen gibt es auch schon: "Tipflation" ist eine Wortneuschöpfung aus "Tip" für Trinkgeld und "Inflation". Auf den Bezahlterminals in Restaurants wird immer öfter 22, 25 oder 30 Prozent als mögliches Trinkgeld vorgeschlagen. Viele Kunden sind davon zwar zunehmend genervt, doch Gastronomen und Bezahldienstleister ignorieren den Unmut bisher überwiegend. Und auch den Servicekräften dürfte die Entwicklung recht sein: Für Berufe mit Trinkgeld gilt in den USA ein Mindestlohn von nur 2,13 Dollar pro Stunde, was weit unter dem normalen Mindestlohn von 7,25 Dollar liegt. Und schon der kann mit den rapide steigenden Lebenshaltungskosten nicht mithalten.
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In Deutschland ist das Trinkgeld ein Bonus
Und in Deutschland? Wird auch schon über die Höhe angemessener Trinkgelder diskutiert. Dabei haben die Deutschen gegen das Trinkgeld an sich überwiegend nichts, im Gegenteil: In einer Untersuchung des Marktforschungsunternehmen Yougov gaben 78 Prozent der Befragten an, im Restaurant üblicherweise Trinkgeld zu zahlen. Damit liegen sie weltweit auf Platz 1. Die USA landeten mit 77 Prozent knapp dahinter. Ein wichtiger Unterschied: In Deutschland sind Servicekräfte nicht auf das Trinkgeld angewiesen, es ist lediglich ein Bonus.
Trotzdem wird es oft genug indirekt eingefordert, etwa durch langes Kramen nach dem Rückgeld bei der Barzahlung – oder eben vermehrt durch die Voreinstellungen der immer häufiger anzutreffenden Bezahlterminals. Die Geräte des populären Anbieters Sumup sind beispielsweise bei einer Zahlung ab 10 Euro standardmäßig auf Trinkgeld-Optionen in Höhe von zehn, 15 und 20 Prozent eingestellt. Der Durchschnitt in Deutschland lag bisher aber zwischen fünf und zehn Prozent.

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Dabei hätte man vermuten können, dass das vermehrte Zahlen per Karte eigentlich zu einem Rückgang des Trinkgeldes führen würde. Doch das Gegenteil ist der Fall: Laut einer Forbes-Studie geben Kunden, die per Karte zahlen, rund 15 Prozent mehr Trinkgeld als die, die bar bezahlen. Dazu kommen die psychologischen Effekte der Bezahlterminals: Studien deuten darauf hin, dass durch die vorgegebenen Trinkgeld-Optionen die Kundschaft unter Druck gesetzt wird, eine der vorgegebenen Möglichkeiten anzunehmen. Schließlich steht die Bedienung meist direkt daneben.
Trinkgeld abzulehnen oder manuell einen eigenen Betrag einzugeben, funktioniert wenn überhaupt nur mithilfe kleinere Tasten, die Kunden erst finden müssen. Auch dafür gibt es in den USA schon einen Begriff: "Guilt Tipping". Man gibt Trinkgeld also nicht mehr nur für den guten Service, sondern auch, weil man sonst ein schlechtes Gewissen hätte.
Dieser Artikel erschien zuerst bei Capital.