Capital-Interview Ex-Lageso-Chef: "Wir brauchen mehr Management-Erfahrung in Behörden"

Von Horst von Buttlar und Monika Dunkel
Ein Jahr leitete der Ex-McKinsey-Berater Sebastian Muschter Deutschlands schwierigste Behörde, das Lageso in Berlin. Im Capital-Interview fordert er mehr Manager in der öffentlichen Verwaltung.

Capital: Herr Muschter, ein Jahr lang waren Sie Chef der wohl berüchtigtsten Behörde Deutschlands, des Berliner Landesamts für Gesundheit und Soziales, kurz Lageso. Vor Ihrem Wechsel waren Sie 14 Jahre bei McKinsey. Warum haben Sie sich das angetan?
Das mag komisch klingen, aber die meisten Leute bei McKinsey sind Weltverbesserer. Die machen ihren Job nicht wegen des Geldes, sondern weil sie etwas verändern wollen.
Als der Flüchtlingstreck nach Berlin kam, war ich Teil eines kleinen Beraterteams, das pro bono im Lageso gearbeitet hat. Wir hatten zu der Zeit erste kleine Erfolge erzielt, die Registrierungsschlange verkleinert, Prozesse verbessert.
Dann musste Ihr Vorgänger gehen.
Ja, im Dezember war das Lageso plötzlich führungslos. Ich war mit der Familie ein paar Tage Skifahren – da rief der Sozialsenator an und fragte, ob ich den Job machen würde.
Der Anruf war ein Schock, ich konnte zwei Nächte nicht schlafen.
Aber das muss doch ein Traum sein: endlich nicht mehr nur beraten, sondern selbst entscheiden und gestalten?
Ja und nein. Vom Berater zum operativ Verantwortlichen für 50 000 Flüchtlinge ist eine unfassbar große Verantwortung. Aber ich hatte meiner Familie versprochen, künftig mehr Zeit mit ihr zu Hause in Eltville zu verbringen. Als ein paar Tage später der Senat noch mal anrief, hatte ich eine veritable Familienkrise.
Aber ich hab’s gemacht.
Was hat Sie denn an diesem Höllenjob gereizt?
Das war eine Mischung aus ein bisschen Eitelkeit und Suche nach Herausforderung.
Denn das Lageso zu managen war sicher eine der größten Aufgaben, die Deutschland in diesen Monaten zu bieten hatte. Ich scheue keine Risiken, je größer die Aufgabe, desto mehr lockt mich das.
Und ich dachte, ich hatte genau die richtige Vorerfahrung.
Sie trafen auf eine Behörde, die innerlich kapituliert hatte und als Symbol für den Kontrollverlust des Staates während der Flüchtlingskrise galt. Da konnten Sie mit Ihrer Beraterschablone nicht viel anfangen.
Welchen Plan hatten Sie?
Mir war klar, die Wende musste von den Mitarbeitern ausgehen. Denn die Kollegen waren ja nicht unfähig, die waren einfach nur fertig.
Sie fühlten sich wie Sisyphos, jeden Morgen kamen sie wieder und rollten den Stein den Berg hinauf. Doch immer wenn sie fünf Flüchtlinge bearbeitet hatten, kamen noch zehn mehr. Dann waren sie bei 15 pro Tag, dann bei 25. Ich musste als Erstes dafür sorgen, dass die Arbeitsbelastung wieder erträglich wurde.
Sie standen unter extremem Druck. Wie schafft man da eine Neuorganisation?
Wir sind im Tagesgeschäft ersoffen, ohne dass uns jemand den Rücken freihielt. Stand zum Beispiel in der Presse, dass drei Flüchtlinge seit Wochen kein Geld mehr bekommen hätten, musste sich jeder im Lageso um die drei Flüchtlinge kümmern. Wenn eine Unterkunft die Duschen nicht anschließen konnte, kümmerten sich alle um den Klempnervertrag. Ich habe schnell gelernt, dass wir den Impulsen von außen nicht hinterherlaufen dürfen, dass wir Tagesgeschäft und strukturelle Verbesserungen parallel angehen müssen. 

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Mit versteckter Kamera im Lageso-Chaos

Im Normalbetrieb hat das Lageso funktioniert. Hätte die Behörde sich auf den Flüchtlingsansturm besser vorbereiten können?
2011 kamen 2000 Flüchtlinge nach Berlin, 2015 waren es fast 80.000, 40-mal so viel. Jedes Privatunternehmen geriete in operative Nöte, nicht einmal Amazon würde es schaffen, innerhalb von vier Jahren 40-mal mehr Aufträge zu erfüllen. Die Frage ist nun, wie reagiert man rechtzeitig auf einen solch dramatischen Zuwachs an Flüchtlingen? Aus heiterem Himmel kam das ja nicht.
Wie meinen Sie das?
Schon 2014 war klar, dass das Lageso mehr Leute braucht. Die Berliner Verwaltung ist nach der Wende von 200 000 auf 100 000 Mitarbeiter eingedampft worden.
Das Lageso war Mitte 2015 wie ein Schweizer Käse mit großen Löchern in allen Abteilungen.
Ein McKinsey-Mann, der mehr Stellen fordert, ist auch mal etwas Neues. Auch Ihr Vorgänger hat darum gebeten, ohne großen Erfolg.
Was haben Sie anders gemacht?
Als ich kam, war die Frage schon entschieden – wir durften mehr Leute einstellen. Aber vorher wäre es wichtig gewesen, mehr Widerstand zu leisten. Zur Not hätte ich mich an der Senatsverwaltung angekettet.
Ich beobachte das immer wieder, auch in Unternehmen. Viele Leute sind gefangen in Strukturen, in denen sie keinen Erfolg haben können, und lassen sich trotzdem auf völlig unrealistische Ziele ein.
Scheitern sie dann, ist dies schlagartig ihr persönliches Problem.

Sie sind angetreten, als mit der Kölner Silvesternacht die Stimmung kippte. Wie geht man damit um, wenn man als Umsetzer einer verfehlten Flüchtlingspolitik gilt?
Ich weiß nicht, wie oft ich in den Wochen nach Köln gesagt habe: Das sind keine Flüchtlinge! Das sind Kriminelle, Illegale. Ich wurde oft als Sozialfantast beschimpft. Aber die Fakten sind nun mal so: Wir haben im Großen und Ganzen keine Kriminalität in den Unterkünften und mit Flüchtlingen. Mal eine Prügelei in der Essensschlange. Auch die Akzeptanz der Unterkünfte bei den Nachbarn ist gut. Anfängliche Bedenken lösen sich schnell auf.
Vor Weihnachten gab es nun das Attentat von Berlin und den Überfall auf einen Obdachlosen. Da ist die Stimmung doch eher: Ohne Willkommenspolitik wäre das nicht passiert. Glauben Sie nicht, dass die Stimmung erneut kippt?
Die Stimmung kann schnell kippen, wenn mehr passiert. Noch behält die Mehrheit einen kühlen Kopf, die Stimmung bei den restlichen zehn bis 20 Prozent der Bevölkerung ist schon länger gekippt. Wir müssen uns unbedingt unsere Empathie für die wirklich Hilfebedürftigen bewahren, aber gleichzeitig bei den Ausreisepflichtigen viel konsequenter werden. Es gibt kaum Druck und Möglichkeiten, sie zu einer Ausreise zu bringen, und zu viele Verzögerungsgründe.
Das Ganze wird unterstützt von einer Lobby von Anwälten, die an den Prozessen gut verdienen. Ich mag solche Wischiwaschi- Zustände nicht – die Unsicherheit zermürbt alle Beteiligten.
Welche Lehren ziehen Sie aus der Umstrukturierung des Lageso für die Verwaltung insgesamt?
Wir brauchen dort mehr Managementerfahrung.
Ein Behördenchef stellt sich die Frage gar nicht, wie lange er brauchen würde, um mit der doppelten Zahl Kunden zurechtzukommen.
Gute Manager aber lernen so etwas. Sie können in Szenarien denken, Prozesse verändern, Krisenteams leiten, Leute zusammenbringen und motivieren, das Problem ohne Denkverbote auf den Tisch legen. Ein Behördenchef ist dafür nicht ausgebildet.
Wie bekommen wir denn mehr Manager in die Behörden? Wir können ja nicht allen Quereinsteigern 250.000 Euro zahlen.
Doch, wir werden auch mehr bezahlen müssen. Die Gehaltsdebatte ist scheinheilig. Wenn Sie sich anschauen, wie viele Chefs staatlicher oder fast staatlicher Unternehmen mehr verdienen als Angela Merkel …

Der berühmte Sparkassendirektor...
Zum Beispiel. Die Direktorin der Stadtsparkasse Bad Honnef verdient 240.000 Euro, die haben 500 Millionen
Bilanzsumme, das ist so viel, wie das Lageso bewegt. Sie verdient das 2,5-Fache vom Lageso-Chef. Stadtwerke, Krankenkassen, die Bahn – alle verdienen deutlich mehr als ein Kanzler. Angela Merkel trägt die Last der gesamten westlichen Welt und verdient halb so viel wie der Chef der Sparkasse Neuss. Das ist absurd. Ab einer gewissen Schwelle und Verantwortung sollten Behördenchefs überproportional bezahlt werden. Im Gegenzug würde ich befristete Verträge machen, so ähnlich wie bei Geschäftsführern.
Aber die Verwaltung holt sich doch regelmäßig Expertise von außen rein. Sie sind das beste Beispiel.
Das sind absolute Ausnahmen, denn wir haben eine verhängnisvolle Tendenz, einem Politiker Unfähigkeit zu unterstellen, wenn er um Hilfe bittet. Es heißt dann immer: Warum könnt ihr das nicht selber? Nehmen Sie die Bundeswehr: Die vergibt Rüstungsprojekte im Wert von über 50 Milliarden Euro. Und aufseiten der Industrie sitzen Profis, die haben die besten Anwälte und die schlausten Vertriebler. Wenn sich der Staat in so einer Lage Managementexpertise holt, profitiert der Bürger.

Das gesamte Interview mit Sebastian Muschter lesen Sie in der aktuellen Ausgabe des Wirtschaftsmagazin "Capital".    

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stern-Reporterin berichtet über das Lageso-Chaos

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