"Lieber Gott, wo warst Du?" Irgendjemand hat diese Frage in das Kondolenzbuch für den kleinen Mohamed geschrieben, das wochenlang auf dem Gelände des Lageso in Berlin auslag - dort, wo der Flüchtlingsjunge aus Bosnien auf seinen Mörder traf. Mit einem großen Teddy hatte der Täter ihn mutmaßlich weggelockt, dann gequält, missbraucht, erdrosselt.
Das Bild der Überwachungskamera, wie der große Mann den vierjährigen Jungen, der sich ihm anvertraut, an die Hand nimmt und mit ihm das Gelände verlässt: Es hat viele Menschen bis heute nicht losgelassen. Wie auch viele die strahlend blauen Augen des blonden Elias nicht vergessen können, der Monate zuvor vermutlich von demselben Mann in Potsdam beim Spielen nahe der elterlichen Wohnung entführt und ebenfalls bestialisch gequält und umgebracht wurde.
Heute der erste Tag im Prozess gegen den Wachmann Silvio S., der beide Morde gestanden hat. Es war um kurz nach zehn Uhr, Landgericht Potsdam, Saal 8: Ein unscheinbares Persönchen in Handschellen betrat den Saal, ein weiches Allerweltsgesicht, fast schon sympathisch. Zum ersten Mal traf der mutmaßliche Täter auf die Mütter der ermordeten Kinder, sie saßen nur wenige Meter von ihm entfernt.
Taten, die die Urangst aller Eltern berühren
"Lieber Gott, wo warst Du?" Dieser Prozess wird die Antwort nicht finden können. Dazu ist ein Gericht nicht da. Aber es ist gut, dass es diesen Prozess gibt. Die Dinge kommen endlich zur Sprache, das Unfassbare wird fassbar gemacht. Die Begegnungen zwischen mutmaßlichem Täter und Angehörigen sind schmerzhaft und brutal, aber notwendig. Sie machen räumlich und physisch für alle erfahrbar, was so ein Verbrechen bedeutet. Und es gibt ein wenig Trost. So viel Tränen, so viel Leid - nun wird wenigstens Recht gesprochen.
Die Mütter von Elias und Mohamed waren am ersten Verhandlungstag unglaublich tapfer. Sie ertrugen auch die entsetzlichsten Details bei der Verlesung der Anklageschrift: Dass der kleine Mohamed in seinen letzten Augenblicken noch nach seiner Mutter schrie. Dass der Täter mit einem Metallgegenstand den Mund von Elias aufpresste, um ihn am Schreien zu hindern und den Oralverkehr zu erzwingen.
Diese Taten berühren die Urangst aller Eltern, sie zeigen den Einbruch des Bösen, das wie ein Blitz in die kleine, mehr oder weniger heile Welt einer Familie fährt. Sie zeigen aber auch, dass das Abgründige oft im Unscheinbaren wohnt. Wenn man diesen Mann sieht, der da im Saal 8 aufrecht auf der Anklagebank sitzend neugierig in die Runde schaut, hat man das Gefühl: So einer könnte nicht mal eine Maus töten. Er hat abgenommen, er trägt keinen Bart mehr. Er sieht heute ganz anders aus, als auf den Fotos der Überwachungskameras. Er sieht wach und weich aus.
Silvio S. vermutlich nie wieder in Freiheit
Wer Kinder in die Welt setzt, macht sich sehr verletzbar. Angst und Sorge um sie werden ihn nie mehr loslassen. Wer Kinder in die Welt setzt, vertraut darauf, dass die Welt eigentlich gut ist. Dass das Leben stärker ist als der Tod. Dieses Urvertrauen machen Taten wie jene, die Silvio S. zur Last gelegt werden, kaputt. Und wenn er der Täter ist, dann hat er nicht nur das Leben zweier Kinder und ihrer Familien zerstört. Sondern auch sein eigenes. Einiges spricht dafür, dass er - obwohl erst 33 Jahre alt - nie wieder einen Moment in Freiheit erleben wird.
Bis in die zweite Julihälfte soll sich dieser Prozess erstrecken, elf weitere Verhandlungstage sind angesetzt. Zu besichtigen ist eine Tragödie. Viele, die den Prozess im Saal verfolgen, ob als Beteiligte oder Zuschauer, werden diese Tage ihr Leben lang nicht vergessen.
Wo war Gott, als all das geschah? Keiner weiß es. Vielleicht war es einfach so: Auch Gott hat sehr geweint, als all das geschah.