Gesunkene Nettolöhne Geringverdiener - Verlierer des Booms

Von Mareike Rehberg
Deutschlands Wirtschaft floriert, doch Geringverdiener haben nichts davon. Experten und Gewerkschaften fordern daher: Weg mit den Niedriglöhnen!

Die Wirtschaft brummt, die Unternehmen stellen so viele Menschen ein, wie schon seit Jahren nicht mehr. Die Arbeitslosenquote sank im Juni auf nur noch 6,9 Prozent. Dennoch macht sich der Aufschwung nicht im Portemonnaie des Normalbürgers bemerkbar. Geringverdiener haben sogar weit weniger Geld zur Verfügung, als noch vor zehn Jahren. Wie sich diese Entwicklung bremsen oder umkehren lässt, darüber sind Wirtschaftsexperten uneins.

Bereits seit Jahren sinken die realen Nettolöhne. Besonders deutlich wird dieser anhaltende Trend jetzt durch eine Umfrageauswertung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). DIW-Verteilungsforscher Markus Grabka analysierte darin Ergebnisse des Soziooekonomischen Panels (Soep), für das jedes Jahr Tausende Menschen nach ihren Lebensumständen gefragt werden. Danach sind Geringverdiener die größten Lohnverlierer der vergangenen zehn Jahre.

Angestellte der unteren Einkommensgruppen mussten von 2000 bis 2010 16 bis 22 Prozent an Einbußen hinnehmen. Im Durchschnitt sanken die Nettogehälter der Panel-Teilnehmer preisbereinigt um 2,5 Prozent. Verdiente ein Arbeitnehmer im Jahr 2000 im Schnitt 1429 Euro netto, waren es 2010 nur 1394 Euro. Lediglich bei den Besserverdienenden stiegen die realen Nettoeinkommen um knapp ein Prozent. Ohne Preisbereinigung, erläutert Grabka gegenüber stern.de, seien die Löhne zwar gestiegen, die Inflation habe diese Zuwächse aber wieder aufgezehrt.

Doch was ist zu tun gegen die Misere? Die Experten sind uneins, es gibt eine Vielzahl an Vorschlägen, wie die Deutschen wieder mehr Geld ins Portemonnaie bekommen. Was die Fachleute fordern.

Kassenbeiträge für Arbeitnehmer senken

Dafür plädiert Peter Bofinger. Nach Ansicht des Wirtschaftsweisen sollten die Arbeitgeber künftig wieder die Hälfte der Krankenkassenbeiträge übernehmen. Das forderte der Wissenschaftler in der "Frankfurter Rundschau". Seit der Einführung des Gesundheitsfonds 2009 zahlen die Arbeitnehmer mehr als ihre Arbeitgeber.

Mindestlöhne einführen

Dafür plädiert Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Er sieht darin eine Möglichkeit "zumindest Auswüchse von schlechter Bezahlung zu verhindern". Allerdings hält Möller bei der Mindestlohnhöhe Augenmaß für erforderlich - im Westen sollte der Satz 7,50 Euro, im Osten 6,50 Euro betragen. Ansonsten könne es zu Jobverlusten kommen. Außerdem sollten Geringverdiener stärker bei den Sozialabgaben entlastet werden, fordert der Arbeitsmarktexperte im Gespräch mit stern.de. Auch Verdi ist optimistisch: "Der Geist ist aus der Flasche, die Mindestlöhne werden kommen", sagte eine Sprecherin. Dann werde auch die Kaufkraft der Geringverdiener steigen, die einen Großteil ihres Einkommens in den Konsum stecken, und davon profitiere die Wirtschaft.

Mehr Geld fordern

Christoph Schröder, Einkommensfachmann beim wirtschaftsliberalen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, hält dagegen wenig von Regulierungsmaßnahmen seitens der Politik. In der aktuell guten konjunkturellen Lage sollten Arbeitnehmer bei ihrer Einstellung höhere Löhne fordern, bei weniger Konkurrenz hätten sie nun bessere Karten für mehr Geld.

Für Schröder ist die Debatte um die Nettolöhne ein "Klagen auf hohem Niveau". "Es traut sich zwar niemand mehr zu sagen", so der Wirtschaftsforscher im Gespräch mit stern.de, "aber Hartz IV hat den Niedriglohnsektor gestärkt." Und die Volkswirtschaft: Zwei Millionen weniger Arbeitslose als 2005 und mehr Arbeitsplatzsicherheit sorgen seiner Ansicht nach für genügend Kaufkraft. Würde dieser Sektor reglementiert, befürchtet Schröder, landeten viele Leiharbeiter und Mini-Jobber wieder auf der Straße.

Mini-Jobs abschaffen

Für die Gewerkschaften sind die neuen Zahlen Anlass, ihre Forderungen nach einem Abbau des Niedriglohnsektors zu erneuern. Sie setzen sich ein für die gleiche Bezahlung von Leiharbeitern nach flächendeckenden Mindestlöhnen, für einen einfachen Umstieg von Teilzeit auf Vollzeit und für weniger befristete Arbeitsverhältnisse.

In Bereichen wie zum Beispiel der Elektroindustrie, in der Tarifverträge gelten, seien die Reallöhne gestiegen, sagt eine IG-Metall-Sprecherin stern.de. Hauptgründe für zu niedrige Einkommen sind nach Ansicht der IG Metall wie auch von Verdi und des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) die ungleiche Bezahlung von Leiharbeitern und die vielen Mini-Jobs. Allein die Soep-Zahlen sprächen für sich: Von 40 Millionen Erwerbstätigen gehen sieben Millionen Menschen einem Mini-Job nach.

Doch wird sich in absehbarer Zeit etwas ändern an den sinkenden Nettolöhnen? DGB-Arbeitsmarktexperte Wilhelm Adamy hält das nur für möglich, wenn die staatliche Subventionierung des Niedriglohnsektors gesetzlich gestoppt wird.

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