Manchmal öffnet sich das Metalltor der weißen Villa in Ehingen und ein dunkelblauer Porsche schleicht heraus. Der Mann am Steuer färbe seine Haare nicht mehr und sei jetzt schlohweiß, erzählt ein Nachbar. Ein Gerücht. Eines von vielen, die über Anton Schlecker, 71, in Ehingen bei Ulm erzählt werden. Denn genau genommen hat im dem 25.000-Einwohner-Städtchen kaum jemand den früheren Drogeriemarkt-König zu Gesicht bekommen, seit vor vier Jahren sein Imperium zerfiel.
Auch der Oberbürgermeister nicht. "Ich beteilige mich nicht an der Gerüchteküche", stellt Alexander Baumann klar. Er wurde 2010 zum Stadtoberhaupt gewählt, kurz vor der Schlecker-Pleite. Immerhin über die frühere Firmenzentrale in der Talstraße mag der Christdemokrat Auskunft geben. Die Stadt kaufte den gläsernen Komplex im vergangenen Jahr für einen unbekannten Betrag vom Insolvenzverwalter, nannte ihn "Businesspark Ehingen" und machte sich auf die Suche nach Mietern für mehr als 20.000 Quadratmeter Büroräume.
Schlecker kommt noch immer in sein Büro - ungesehen
In dem Klotz können die Ehinger heute Segway fahren lernen, unten ist eine Sprachschule für Flüchtlinge eingezogen. Auch die Bundesagentur für Arbeit und eine Zeitarbeitsfirma haben Flächen angemietet. Ein Teil des mächtigen Gebäudes steht leer, doch Alexander Baumann ist zuversichtlich, dass es bald voll belegt sein wird. "Sowas geht eben nicht von heute auf morgen."
Der Mieter ganz oben ist übrigens die "Schlecker Immobilien Verwaltung". Von hier aus lenkte Anton Schlecker einst seinen Konzern. Er besitzt nach wie vor einen Schlüssel zum Lift, der ihn direkt von der Tiefgarage in den siebten Stock bringt, ohne Feindkontakt. Wie damals. So kommt er ungesehen ins Büro. Wie oft er dort ist und was er dort macht, weiß allerdings niemand so genau. Das Grundstück nebenan, wo er sich früher mit Freunden zum Tennis traf, ist verwaist. Schleckers Spuren finden sich überall in dem Städtchen, doch sie verlieren sich. Er ist das Phantom von Ehingen.
Jahrzehntelang haben sie hier Anton Schlecker verehrt, den Metzgersohn, der es zum dreifachen Milliardär geschafft hat. Auch wenn ihn schon damals kaum einer kannte. Doch der menschenscheue Unternehmer brachte viele Jobs hierher und sponserte ein großes Handballturnier. Die Kleinstadt durfte sich im Glanz von Europas größtem Drogerie-Unternehmen sonnen: In den besten Jahren zählte Schlecker rund 14.000 Filialen und 50.000 Mitarbeiter, allein tausend davon in Ehingen.
Vom beliebten Nachbarn zum Verdächtigen
Dass er 1998 zu einem Bußgeld von einer Million Euro verurteilt wurde, weil er seine Angestellten nicht nach Tarif bezahlt hatte, verziehen ihm die Bürger schnell. Dass er Mitarbeiter und Betriebsräte ausspionieren ließ, und an Sicherheit und Telefonen in den Filialen sparte, rüttelte ebenfalls kaum an seinem Ruf. Nach der Pleite Anfang 2012, obwohl diese offensichtlich weitgehend selbstverschuldet war, empfanden viele sogar Mitleid mit der Familie, die einen großen Teil ihres Privatvermögens verlor.
"Dieser Absturz war schon tragisch", sagt ein Nachbar, der die Schleckers als anständig beschreibt. Einmal sei ein Fußball über die Mauer auf ihr Grundstück geflogen und von den Wachhunden zerfetzt worden. "Ein paar Tage später brachten sie uns drei neue Bälle." Doch die Staatsanwaltschaft Stuttgart zeichnet nun ein ganz anderes Bild des Unternehmers. Sie legt Anton Schlecker 36 Straftaten zur Last. Auch seine Frau Christa, die beiden Kinder Meike und Lars sowie zwei Wirtschaftsprüfer werden beschuldigt. In den Jahren vor der Pleite sollen Millionen beiseite geschafft worden sein. Geld, das nach dem Konkurs eigentlich den Gläubigern zugestanden hatte.
Dem Insolvenzverwalter hatte die Familie bereits zehn Millionen Euro zurückgezahlt. Doch diese Zahlung würde Schlecker nicht vor einer Strafe schützen. Als Hauptbeschuldigten drohen Schlecker bis zu zehn Jahre Haft, weil es um einen besonders schweren Fall von Bankrott gehen soll. Ob die Anklage zugelassen wird, entscheidet in den nächsten Monaten das Landgericht Stuttgart.
In Ehingen wird viel getuschelt
Schleckers Anwalt Norbert Scharf, der schon Formel-1-Chef Bernie Ecclestone vertrat, teilte mit, dass sich sein Mandant nicht öffentlich äußern würde und warnte vor einer Vorverurteilung. In Ehingen wird jetzt wieder viel getuschelt. "Die Gerüchteküche brodelt", sagt ein Journalist, der das Städtchen seit Jahren kennt. "Und dennoch würde niemand der Familie je öffentlich einen Vorwurf machen."
Das liege auch an der fehlenden Streitkultur, der Angst vor Konflikten, die tief sitze. "Hier kennt einfach jeder jeden. Da gilt es als ratsam, sich aus allem herauszuhalten." Passend dazu möchte der Mann auch seinen Namen lieber nicht im stern lesen. Nur eine Frau macht nach wie vor den Mund auf: Frida Müller. Sie empfinde Genugtuung, dass es nun wohl zum Prozess komme, sagt die ehemalige Schlecker-Betriebsrätin. Zugegeben, Schlecker habe zum Schluss besser gezahlt als die Konkurrenz. Zugleich habe die Geschäftsführung ihre Arbeit immer wieder torpediert. Nach Rache trachte sie nicht, sie verlange nur Gerechtigkeit: "Wenn ich falsch parke, muss ich eine Strafe zahlen. Und wenn hier Unrecht getan wurde, müssen die Verantwortlichen bestraft werden."
Möglich, dass das Phantom von Ehingen bald an einem anderen Ort sehr sichtbar wird: in Stuttgart auf der Anklagebank.