Dass die fast sechsstündige Fahrt ungemütlich werden könnte, hatte Friedrich Betz bereits geahnt. Jeden Freitagabend steigt der 54-Jährige in den ICE von München nach Berlin, sucht sich eine ruhige Ecke, schiebt die Sitzfläche etwas nach vorn, dreht die Lehne nach hinten und streckt die Beine aus. Betz ärgert sich: "Wäre ich doch gestern gefahren", seufzt er. Aus dem ICE, der am Samstagmittag von München nach Berlin fahren sollte, ist ein Intercity geworden. "Ersatzzug" heißt es auf der Anzeigetafel an Gleis 18. Und Vielfahrer Friedrich Betz wird die Beine nicht ausstrecken und die Lehne nicht nach hinten klappen können - der Wagen ist voll besetzt, neben kreischenden Kindern und aufgedrehten MP3-Player-Kopfhörern ist an ein Nickerchen nicht zu denken, einzelne Passagiere müssen sogar stehen. "Das hat ein bisschen was von S-Bahn im Feierabendverkehr", grummelt Betz. "In Norddeutschland werden solche Waggons im Regionalverkehr eingesetzt", meint der Fernverkehrsreisende.
Währenddessen ist am Servicepoint des Münchner Hauptbahnhofes nichts von Ungemütlichkeit zu spüren: Auf einem Monitor wird eine "weitere Entspannung am Wochenende bis einschließlich Montag" angekündigt, die Verbindung von München nach Stuttgart sei wieder lückenlos hergestellt und der Verkehr in Richtung Ruhrgebiet entspanne sich ebenfalls. Von einem ICE-Mangel kann in München keine Rede sein: Mehrere hundert Meter vor dem Hauptbahnhof, in Höhe der S-Bahn-Haltestelle Donnersberger Brücke, stehen gleich fünf ICE-Züge neben- und hintereinander.
Mit Passagieren werden sie sich heute jedoch nicht füllen. Weil die Bahn nahezu alle Züge des "ICE T" - die modernste ICE-Bauserie mit Neigetechnik - zu Sicherheitsüberprüfungen der Radsatzwellen aus dem Verkehr gezogen hat, müssen sich Reisende auf den ICE-Strecken auf massiven Beeinträchtigungen einstellen. Am Samstag kommt es nach Bahn-Angaben unter anderem zu kompletten Zugausfällen. Betroffen sind die Fernstrecken zwischen Wiesbaden und Dresden, Stuttgart und Zürich sowie Dortmund und Wien. Verkürzte Züge verkehren auf den Strecken Dortmund-München und Hannover-Basel.
Reduzierte Sitzplatzkapazität
Und wer das Glück hat, einen Intercity-Express zu erwischen, muss sich trotzdem auf Unannehmlichkeiten einstellen: Zwischen Berlin und Hamburg wird das ICE-Angebot halbiert, die Züge haben eine reduzierte Sitzplatzkapazität gegenüber dem normalen ICE-Betrieb und können die Sitzplatzreservierungen nicht anzeigen. Weil die Ersatzzüge nur mit reduzierter Geschwindigkeit fahren dürfen, müssen Reisende Verspätungen von bis zu 30 Minuten einplanen. In Leipzig, wo gleich mehrere ICE-Verbindungen betroffen sind, kommen neben anderen Zügen und auch Doppelstockwagen aus dem Nahverkehr zum Einsatz.
Nicht nur die Passagiere sind unzufrieden: "Der Bund muss mindestens 50 Reservezüge vorhalten", sagte Karl-Peter Naumann, Vorstand des Fahrgastverbandes "Pro Bahn", der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung". Der Bund trage laut Grundgesetz eine Verantwortung für den Fernverkehr. "Das ist eine öffentliche Aufgabe", sagte Naumann. Anders als früher, als die Bahn noch Zugreserven von zehn bis fünfzehn Prozent der Flotte bereitgehalten habe, seien es heute "nicht mehr viele", kritisierte er. Die "HAZ" zitiert eine Bahn-Sprecherin, wonach das Unternehmen nur noch "eine geringe Anzahl" von Ersatzzügen für Verkehrsspitzen an Feiertagen wie Weihnachten bereithält.
Zwischen Berlin und München fallen alle Züge aus
Auch in München sorgen die umfangreichen Wartungsarbeiten für Beeinträchtigungen des Zugverkehrs: Auf der ICE-T-Linie 28 von Berlin und Leipzig nach München fallen alle ICE-Züge aus, auch die Schnellzugverbindung nach Garmisch-Partenkirchen wird nicht bedient. Ersatzzüge werden bereitgestellt - doch die Intercity-Züge sind für das Fahrgastaufkommen nicht ausgerichtet, da sie mit weitaus weniger Sitzplätzen ausgestattet sind als vergleichbare ICE-Waggons. Auf Gleis 18 wird der Ersatz-Intercity von München nach Berlin fahrbereit gemacht. Gerade hat die Bahn eine erste Bilanz des Tages gezogen: Trotz des Ausfalls zahlreicher ICE-Züge ist das befürchtete Chaos auf den deutschen Bahnhöfen bislang ausgeblieben. An den wichtigen Verkehrsknotenpunkten gab es am Vormittag nach Angaben der Bahn "keine größeren Verspätungsprobleme".
Trotzdem fühlt sich Vielfahrer Friedrich Betz unwohl - nicht nur wegen des harten Sitzes und der mangelnden Beinfreiheit: "Wer fährt schon gern mit einem Verkehrsmittel, für das der Hersteller keine Garantie mehr geben mag?", sagt Betz nachdenklich. "Stellen Sie sich mal vor, Ihr Auto hätte keinen TÜV mehr. Würden Sie dann noch gern damit fahren?", schimpft er. Bisher war die Bahn für Friedrich Betz ein sorgloses Verkehrsmittel: "Man steigt ein, schläft ein bisschen und steigt ein paar Stunden später wieder aus". Das habe sich nach den Berichten der letzten Tage geändert. Auf die Bahn wird Betz, der jedes Wochenende zwischen München und Berlin pendelt, vorerst nicht verzichten - "aber das Vertrauen und das gute Gefühl, entspannt von A nach B zu kommen, bleibt auf der Strecke."