Herr Stiglitz, die weltweite Finanzkrise hat sich in den vergangenen Monaten täglich verschlimmert und ihren bisherigen Höhepunkt vor zwei Wochen mit der Rettung von Bear Stearns erreicht. Sehen Sie irgendwelche Anzeichen für ein Ende der Krise?
Es ist eher wahrscheinlich, dass die Krise sich noch weiter verschlimmert, weil die Immobilienpreise weiter fallen werden. Sinkende Häuserpreise bedeuten, dass - wie wir es sagen - mehr Kredite "in den Keller gehen". Mehr geplatzte Hypotheken haben weitere Bilanzprobleme bei den Banken zur Folge. Am Ende führt dies zu einer Einschränkung der Kreditvergabe und damit zu einer weiteren Belastung für die Konjunktur. Wir haben 80.000 Arbeitsplätze verloren, drei Monate in Folge. Das ist eine enorme Zahl. Die Wirtschaft befindet sich am Anfang einer Abwärtsspirale.
Glauben Sie, dass die amerikanische Zentralbank nochmals einschreiten muss, um eine weitere Investment-Bank oder eine andere Bank zu retten?
Das ist wahrscheinlich. Es gibt einfach so wenig Transparenz auf den Märkten ...
Zur Person
Joseph Eugene Stiglitz ist amerikanischer Ökonom. In den neunziger Jahren war er Wirtschaftsberater von Bill Clinton, außerdem Chefökonom der Weltbank. Bekannt wurde er vor allem durch sein Buch "Die Schatten der Globalisierung". Im Jahr 2001 erhielt er für seine Arbeiten über das Verhältnis von Information und Märkten den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. In seiner jüngsten Veröffentlichung "Die wahren Kosten des Krieges" berechnet er die Kosten des Irakkrieges für die USA auf drei Billionen Dollar.
... auch jetzt noch?
Ja, es gibt zu wenig Transparenz und zu viele Risiken. Keiner kann einwandfrei sagen, ob ein zweiter Fall Bear Stearns zu erwarten ist. Es kursieren viele Gerüchte über bestimmte Banken, denen möglicherweise Ähnliches bevorsteht. Aber mit der Regierung als letztem Rettungsanker ist ein echter Bank Run wenig wahrscheinlich.
Die Fed hatte also keine andere Wahl, als auch die Investmentbanken massiv zu stützen?
In Anbetracht der vielen Fehler, die passiert sind, hatte die Fed keine andere Möglichkeit. Nur: Nach der Rettung von Bear Stearns wird es für die US-Zentralbank schwierig, dem Durchschnittsamerikaner nicht zu Hilfe zu eilen. Die Bush-Regierung stellt sich dem noch entgegen, aber politisch wird es heikel, wenn sie zugeben muss: "Wir können die Schulden der großen Investmentbanken übernehmen, aber wir haben nicht genug Geld, um den Mann auf der Straße zu retten."
Was haben die Banken falsch gemacht?
Auf den Punkt gebracht, kann man sagen: Sie haben Risiken schlecht gehandhabt. Traditionell beleihen Banken 80 Prozent eines Immobilienwertes. Weil die Preise so stark gestiegen sind, begannen sie, 95 oder 99 Prozent des Wertes zu beleihen. Als die Spekulationsblase zerplatzte und die Preise abgestürzten, konnten viele Hypotheken nicht mehr bezahlt werden. Die Banken nahmen in der Folge die faulen Kredite und haben sie zerschnitten und zerteilt und in völlig untransparente Pakete gepackt. Damit wurden die wahren Risiken verschleiert. Nur: Jeder Mitarbeiter der Regulierungsbehörde, der nicht am Steuer schlief, hätte merken müssen, dass da was faul war.
Haben die Betroffenen ihre Lehren aus der derzeitigen Krise gezogen?
Nur für kurze Zeit, und dann vergessen sie wieder alles. Die derzeitige Krise ist eine kompliziertere Version der Probleme, die wir bereits in der Vergangenheit hatten. Nach der Großen Depression wurden auch einige Reformen durchgeführt. In der Krise gingen viele Hypothekenversicherer in Konkurs, und das Geschäft mit der Hypothekenversicherung verschwand. Das haben die Menschen nur wieder vergessen. Sie haben sich schnell wieder gesagt: "Wir können Hypotheken versichern und Geld für Hypotheken verleihen, weil die Preise niemals fallen." Die Preise sinken nie, außer alle 30, 40 oder 50 Jahre, und das ist für viele Leute im Geschäft zu lang, als dass sie sich daran erinnern könnten.
Wenn die Menschen in wirtschaftlichen Dingen ein Kurzzeitgedächnis haben, wie können dann künftige Krisen vermieden werden? Brauchen wir bessere und strengere Vorschriften?
Ich denke, darüber sind sich alle einig. Wir brauchen eine bessere und strengere Regulierung. Die Welt ist anspruchsvoller und komplizierter geworden, und deswegen benötigt man ein besseres Aufsichtssystem. Die meisten der komplizierten Finanzprodukte, die die Krise mit ausgelöst haben, wurden als risikomindernd und -vorbeugend beschrieben und angepriesen. Tatsächlich haben sie jedoch das Risiko erhöht. Es ist schön und gut, wenn Leute zocken wollen. Aber, erwachsene Menschen können nach Las Vegas gehen, um zu spielen. Sie sollten ihr Glückspiel nicht mit dem Geld der Steuerzahler absichern. Alan Greenspan wurde gefragt, ob ihn die Spekulationsblase beunruhigt. Und er antwortete: "Wir können nicht sagen, ob es eine Blase gibt."´
... möglicherweise hat er die Blase damit nur noch größer gemacht.
Er hat die Menschen ermuntert, Hypotheken mit flexibler Verzinsung aufzunehmen als die Zinssätze auf einem Tiefststand waren. Gleichzeitig hat er immer wieder betont: "Falls Probleme auftauchen, besitzen wir die Instrumente, um damit fertig zu werden." Was er allerdings nicht sagte, war: "Übrigens, während der Spekulationsblase werden reiche Leute noch mehr Geld verdienen, und wenn es ein Problem gibt, werde ich das amerikanische Volk bitten, diesen reichen Leuten aus der Klemme zu helfen." Denn dann hätten einige Leute vielleicht gestutzt und gesagt: "Hey, einen Moment, lass uns doch mal darüber nachdenken, was wir hier eigentlich machen."
Zurück zur derzeitigen Situation. Der Vorstandschef der Deutschen Bank, Joseph Ackermann, glaubt nicht mehr an die Selbstheilungskräfte des Marktes. Stimmen Sie ihm zu?
Auf jeden Fall. Ich habe schon lange behauptet: Jeder, der sich die historischen Daten anschaut, kann nicht an die selbstregulierenden, selbstüberwachenden, selbstkorrigierenden Marktmechanismen glauben. Man kann zwar dagegenhalten, dass sich die Wirtschaft auch nach der Großen Depression erholt hat, obwohl auch hier die Regierung einschreiten musste. Aber so eine Erholung dauert, und wir dürfen nicht warten, weil so viele Menschen betroffen sind, unter ihnen viele Unschuldige: Die Arbeiter, die nicht gezockt haben, die nicht an spekulativen Unternehmen beteiligt waren. Die werden ihre Jobs verlieren. Sie sind die unschuldigen Opfer eines Systems, das schlecht geführt wurde.
Zurzeit reden alle von dem Geld, das die Banken verlieren. Aber keiner redet von den Hausbesitzern in den Vereinigten Staaten, die ihr Heim verlieren.
Genau. Und es ist mehr als nur ihr Heim, das sie verlieren. Viele der Betroffenen stammen aus der Mittelschicht, der unteren Mittelschicht oder den ärmeren Schichten. Die haben ihr gesamtes Geld in ihre Häuser gesteckt. Wenn sie ihre Häuser verlieren, verlieren sie gleich ihre gesamten Ersparnisse mit.
Glauben Sie, dass das Konjunkturprogramm, das Präsident Bush initiiert hat, helfen wird? Immerhin zielt das Programm nicht direkt auf Hausbesitzer.
Das Programm wird sicher helfen, die Rezession zu dämpfen. Aber es bietet zu wenig, kommt zu spät und ist schlecht gestaltet. Die Krise hat bislang einen Schaden von 900 Milliarden Dollar verursacht. Dieser kann nicht mit einer Finanzspritze von 150 Milliarden Dollar ausgeglichen werden. Es reicht einfach nicht. Außerdem: Das langfristige Problem der USA ist nicht, dass Amerikaner zu wenig konsumieren, sondern zu viel. Die Sparquote liegt bei Null. Das zögert den Tag der Abrechnung hinaus, weil es Amerikanern sagt: "Konsumiert euch aus der Krise." Das wird nicht funktionieren.
Zurück zur US-Zentralbank. Besitzt sie noch genug Optionen, um die Wirtschaft aus der Rezession zu führen?
Wie ich schon sagte, die Fed hatte keine andere Wahl, als Bear Stearns zu retten. Aber die Fed hat dabei auch erkannt, dass sie nicht viel machen kann, um die Wirtschaft aus der Krise zu führen. Sie hat explizit gesagt, dass es Aufgabe der Finanzverwaltung, also der Bush-Regierung, ist, etwas zu tun. Denn: Eine Senkung der Zinssätze bedeutet nicht, dass wieder mehr Häuser gekauft werden.
Alan Greenspan sagte in einem Gastartikel für die "Financial Times": "Wir werden niemals ein perfektes Modell zur Abschätzung von künftigen Risiken haben." Heißt das, wir können uns zurücklehnen, entspannen und auf die nächste Krise warten?
Ich habe den Artikel gelesen, und ich glaube, er versucht, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Er lehnt die Verantwortung für die Misswirtschaft unter seiner Aufsicht ab. Es ist ja nicht nur, dass er nicht getan hat, was er hätte tun sollen; durch einige seiner Reden hat er womöglich zu den Problemen beigetragen.
Das Ansehen von Alan Greenspan hat in den vergangenen Wochen erheblich gelitten.
Oh ja, sehr. Ben Bernanke, sein Nachfolger, hat den Hypothekenbanken strengere Regeln auferlegt. Aber er hat damit viel zu lange gewartet. Er hat den Brunnen erst zugedeckt, als das Kind schon längst ertrunken war.
Sie sagten anfangs, Sie wüssten nicht, wann diese Krise beendet sein wird. Die letzten beiden Rezessionen in Amerika waren relativ kurz. Wird es dieses Mal anders verlaufen?
Ich glaube, die aktuelle Krise ist für die Vereinigten Staaten der stärkste Wirtschaftsabschwung seit der Großen Depression. Wir haben ein tiefgehendes Problem mit dem Finanzsystem. Ich denke, man muss vorsichtig sein bei der Wahl der richtigen Kriterien, um die Dauer einer Rezession zu bewerten. Generell schaut man danach, wie viele Quartale es negatives Wachstum gegeben hat.
Aber man sollte eigentlich die breiter angelegte Frage stellen: Wie lange dauert es, bis die Wirtschaft das volle Wachstumspotential wieder erreicht hat? Denn so lange wie die Wirtschaft unter ihrem Potenzial bleibt, wird die Arbeitslosigkeit zunehmen. Nach dem Wirtschaftsabschwung von 1991 hat es bis 1994 gedauert, bis sich die Wirtschaft vollständig erholt hatte.
Wie lange wird es in dieser jetzigen Krise dauern, bis die Wirtschaft ihr volles Wachstumspotenzial wieder erreicht hat?
Ich glaube, wir müssen mit drei Jahren rechnen. Mindestens.
Inwiefern wird diese Krise Auswirkungen auf andere Teile der Welt haben? Wir in Europa scheinen zu glauben, der Sturm würde an uns vorüberziehen, er würde uns nicht treffen.
Das habe ich damals beim Wirtschaftsabschwung von 2001 auch gehört. Ich glaube, die Geschichte mit der Abkoppelung von Amerika wird maßlos übertrieben. Viele schauen nach China und sehen in dem dortigen Wachstum einen weiteren Motor für die globale Wirtschaft. Das mag zwar stimmen, und China wird sicherlich noch weiter stabil wachsen. Aber die chinesische Wirtschaft ist dennoch wesentlich kleiner als die der Vereinigten Staaten. China wird die Krise wahrscheinlich ausnutzen, um eine leichte wirtschaftliche Abschwächung von sagen wir mal elf auf neun Prozent zu erreichen. Das mag für China gut sein, aber die Tatsache, dass ihre Wirtschaft um zwei bis drei Prozentpunkte abgebremst wird, zieht eine Verlangsamung des globalen Wachstums nach sich.
Glauben Sie, dass sich etwas ändern wird, sobald ein neuer Präsident im Weißen Haus sitzt? Wird Barack Obama etwas anders machen? Oder würde Hillary Clinton im Weißen Haus die Krise besser meistern? Oder gar John McCain?
Es wird eindeutig einen Unterschied machen, wer am 20. Januar im Weißen Haus sitzt. Niemand hat mehr Vertrauen in Präsident Bush. Das Management der Wirtschaft, das Management des Irak-Krieges, was ich auch in meinem neuen Buch erwähnt habe, waren ein Desaster. Wer auch immer ins Weiße Haus gewählt wird, erbt eine Altlast von sehr ernsten Problemen. Die Staatsverschuldung ist unter der Bush-Regierung um drei Billionen Dollar gestiegen. Der Handlungsspielraum ist dadurch deutlich kleiner geworden. Wir stehen vor ernsten Problemen, sehr ernsten Zwängen.
Wer hat das beste Programm gegen die Krise?
Jeder ist besser als Bush - das ist eindeutig. Aber unter den einzelnen Kandidaten gibt es riesige Unterschiede. McCain weist der Regierung ganz klar eine Funktion zu, die Parallelen zu Bush aufweist, nämlich: "Nichts tun." Es ist nicht zu übersehen, dass er eine ähnliche Politik vertreten wird. Das weckt Besorgnis, einen Mangel an Vertrauen in seine Fähigkeit, die Wirtschaft zu leiten. Zudem gibt er noch offen zu, dass das nicht sein Fachgebiet ist. Ich denke, es wäre ein Desaster für die Wirtschaft, wenn McCain gewählt würde. Obama ...
... sagt man nach, er sei jung und unerfahren.
Sein Wirtschaftsprogramm und seine Vorschläge zur Reform der Regulierung sind wohlüberlegt. Aber die Unterschiede zwischen Hillary Clinton und Barak Obama sind relativ klein im Vergleich zu den riesigen Unterschieden zwischen den beiden auf der einen und McCain auf der anderen Seite. Bei den Kandidaten der Demokraten gibt es mehr Unterschiede in den Details. Obamas Ideen sind klar gegliedert und visionär. Ich denke, er hat einen größeren Handlungsspielraum, weil er weniger vorbelastet ist. Seine Kampagne gibt ihm einen wesentlich breiteren Rückhalt.
Vielleicht liegt es auch daran, dass er ganz frisch daherkommt. Hillary als Ehefrau eines ehemaligen Präsidenten gehört einer anderen Generation an.
Genau. Hillary hat einige der alten Berater geerbt, und einige von ihnen waren maßgeblich an der Entstehung der Krise beteiligt. Obama dagegen hat nicht so einen Klotz am Bein.