Und zum Abschied sagt Prof. Dr. Dr. h. c. Bert Rürup, sich das feine Jackett und die hellblaue Krawatte zurechtrückend: "Ich bin gespannt, wie Sie mich hinrichten." In seinem Vorzimmer sagt die Sekretärin, die von Bonn nach Berlin abkommandiert wurde in dieses Büro, das den Charme einer etwas geräumigeren Besenkammer hat: "Mein schlechtester Arbeitsplatz." Rürup, Chef der Rürup-Kommission, die Vorschläge zur Reform der Sozialversicherungen erarbeiten soll, steht im Türrahmen und schaut auf das abgewetzte Mobiliar: "Auch Hartz hat hier gearbeitet." Und wie er das sagt in seiner durchtrainierten eleganten Stentorstimme, hört sich das an, als wolle er sagen: Ich bin genauso wichtig wie dieser verdammte Peter Hartz, der mit seiner blöden Hartz-Kommission so schrecklich erfolgreich war. Ich bin nicht schlechter gestellt als er, ich bin hier nicht weggesperrt, abgestellt. Und ich, Bert Rürup, werde groß rauskommen.
Raffelhüschen: Es mangelt an Nachwuchs
Wir haben zu wenig gebumst, oder wir haben zu gut verhütet, wir haben auf jeden Fall zu wenig Kinder - deshalb bricht der Sozialstaat zusammen. Davon ist der Finanzwissenschaftler Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen überzeugt. Er ist gerade zum dritten Mal Vater geworden, und er sitzt gut gelaunt in seiner Freiburger Studierstube unterm Dach im ältesten Uni-Gebäude. Hebt er den Blick von seinem Schreibtisch, schaut er auf einen wunderschönen Hof mit einem mächtigen Baum, und dahinter sieht er den Turm des Münsters - eine unbezahlbare Aussicht, eine moderne Spitzweg-Idylle. An der Tür neben seinem Büro hängt ein Plakat mit einer Art Selbsteinschätzung: "Ein Heim für Klugscheißer".
Das mit den Kindern, natürlich sagt das der 45-Jährige nicht so derb, bei ihm hört sich das so an: "Wir haben 40 Jahre lang demografisch Zweiter Weltkrieg gespielt. Wir haben zu wenige Kinder in die Welt gesetzt. Wir haben seit 40 Jahren eine Fertilitätsrate wie in den Bombennächten. Und das ist natürlich ein bisschen wenig."
Mit Hilfe seiner Zahlen und Statistiken glaubt der Professor in die Zukunft schauen zu können. Was er sieht, ist schrecklich düster, und düster ist für ihn auch die Gegenwart: "Wenn wir so weitermachen, dann sind wir die Zechpreller künftiger Generationen."
Aber Raffelhüschen vertraut seinen Zahlen, seinen Analysen, und so weiß er zweifelsfrei, wie man die Malaise in den Griff bekommt: Die sozialen Leistungen müssen runter, mit der bisherigen "Generosität" sei es vorbei, die Leute sollen für Arztbesuche mehr bezahlen, die Rente sei zu privatisieren, überhaupt müsse sich der Staat radikal zurückziehen. "Ich bin glasklar neoliberal", sagt der Staatsdiener Raffelhüschen, für den der Staat freundlicherweise persönliche Risiken aufs Angenehmste abfedert.
Natürlich weiß Raffelhüschen, dass er - wie es Gewerkschafter sagen würden - ein Frontmann für Sozialdumping ist, aber er hat einen Plan, wie er seine Botschaft freudig ans Volk verkaufen kann: "Wir müssen es den Leuten so beibringen: Willkommen in einem Sozialsystem, das nachhaltig für unsere Kinder finanzierbar ist!"
Und wie der Professor so redet, bekommt man fast Angst vor dem anstehenden Generationenkrieg, aber Gott sei Dank sagt der Herr über die Statistiken dann noch dies: "Mit einer bestimmten statistischen Wahrscheinlichkeit ist meine Statistik falsch."
Schmid: Das Gesundheitswesen ist vermintes Gelände
150 Kilometer weiter nordöstlich, in Tübingen, sitzt ein anderes Mitglied der Rürup-Kommission über seinem Zwiebelrostbraten: der Professor Dr. Josef Schmid, rötlich-schütteres Haar, rötlicher Schnauzer und sehr gepflegter Dreitagebart, sorgsam salopp durchgestylt. Es freut ihn sehr, dass er in der Rürup-Kommission dabei ist. Als Politologe fühlt er sich sonst nicht richtig ernst genommen, immer nur in der Rolle eines Hofnarren. Und nun hat der 46-jährige Polittheoretiker in Berlin doch etwas Praktisches gelernt: "Jetzt weiß ich, wie Politiker sich aufführen. Ich weiß nun, was Irrationalität heißt." Im Übrigen habe er ja schon immer gesagt, man solle sich von dieser Kommission, die wundersam die marode Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sanieren helfen soll, nicht zu viel erwarten.
Was will er eigentlich? Wofür steht er? Er will es nicht sagen, vielleicht weil er es selbst nicht weiß. Er jedenfalls habe nicht den Welterrettungsplan, ein vermintes Gelände sei das Gesundheitswesen, und jeder in der Kommission sehe nur seinen Geldbeutel, das Wort "Bürgerkrieg" fällt. Die Tragödie sei: Die Politiker denken nur in Monaten, sie wollen gar nicht den großen Wurf, sie seien wie kleine Kinder: "Die schießen den Ball weg und brüllen laut "Tor"."
Und dann beklagt Schmid noch sehr beredt verkrustete Strukturen und wie irre ein Gesundheitswesen sei, bei dem nur Kranksein Geld einbringt. Natürlich, sagt das SPD- und Verdi-Mitglied Schmid, müsste man die Systemfrage stellen, aber das tue man doch nicht. "Gern würde ich an die Pharmaindustrie rangehen. Aber die ist viel zu mächtig, die hat zu viele Fluchtmöglichkeiten."
Die Rürup-Kommission: Die letzte Schlacht um den Sozialstaat
Die Rürup-Kommission. 18 Männer, acht Frauen sind in diesem Gremium, der Älteste ist 65 und die Jüngste 22 Jahre alt; zwölf Professoren sind dabei, zwei Gewerkschaftsführer, zwei Unternehmer, eine Bürgermeisterin, zwei Ministerinnen a. D., mehrere Top-Manager - alles ehrenwerte, alles erfolgreiche Mitglieder der Gesellschaft, alle wohlbestallt, alle ziemlich frei von den Sorgen jener, über die sie reden und entscheiden.
Dabei geht es in diesem Gremium um Fundamentales: Es tobt ein Entscheidungskampf um die Philosophie unseres Zusammenlebens. Es ist ein Showdown, vielleicht die letzte Schlacht um den Sozialstaat, um das, was früher Modell Deutschland hieß - und worauf alle Politiker so stolz waren.
"Es ist ein Richtungskampf um das Leben", sagt der Marktfundamentalist Raffelhüschen. "Es ist ein Verteilungskampf", sagt die Gewerkschaftsführerin Ursula Engelen-Kefer, die seit Jahren rituell als "DGB-Sirene" ("Spiegel") oder "unbelehrbarer Betonkopf" abgewatscht wird. Es gehe um Macht, sagt sie, um die Ersparnisse eines reichen Volkes, um mehrere hundert Milliarden Euro jährlich - an die wollten die Versicherungsgesellschaften ran.
Lauterbach: Gerechtigkeit und Solidarität
"Wir sind an einem Scheideweg", sagt der Gesundheitsökonom Prof. Dr. Dr. Karl Lauterbach. Harmlos wirkt der Mann, so sanft mit seiner John-Lennon-Brille. Er ist 40 Jahre alt, sieht aus wie 17, und man meint immer, er müsse gleich zum Abschlussball eilen. Aber er ist ein wichtiger Mann, der Einflüsterer der Gesundheitsministerin, wirklich wichtig, doch halt! Termine beim Kanzler bekommt er nicht mehr. Lauterbach ist dem SPD-Chef unheimlich. Denn er redet von "Gerechtigkeit", "Solidarität", und er meint es auch so. Seine Ideen gefallen dem Kanzler nicht. Sie sind zu sozialdemokratisch, doch heute ist altmodisch, was bis vor ein paar Jahren noch die Seele der Sozialdemokratie ausmachte: die Vision einer gerechteren Gesellschaft.
Und auch die Ärzte mögen den Kölner Gesundheitsexperten nicht. Denn Lauterbach will das bisherige Sozialsystem ausbauen, er möchte die "Zweiklassenmedizin" aufbrechen, Beamte und Selbstständige in die gesetzlichen Kassen einbeziehen und auch noch die Ärzte kontrollieren, kurz: Er hört sich an wie ein Robin Hood des Sozialwesens. Er sagt: "Ich weigere mich zu glauben, dass die Geschichte des sozialen Fortschritts zu Ende ist."
Des Kanzlers Wunsch: ein reformfähiges Deutschland
Man hat dann noch mit anderen Rürupianern gesprochen - und ist Vertraulichkeit zugesichert, wird hemmungslos gestichelt, gehetzt, intrigiert. Die Kommission sei ein Witz. Tonnenweise werde man mit Papieren zugemüllt, doch die Entscheidungen würden im Hintergrund ausgekaspert, in endlosen Telefonaten, und so verplempere man die Zeit in bizarren Sitzungen: Rürup gifte, Engelen-Kefer gelle, und im Übrigen spiele jeder seine festgelegte Rolle, jeder sei beratungsresistent, jeder seinen Interessengruppen verpflichtet. Die Wissenschaftler - Quasselköppe. Raffelhüschen - ein Clown. Nadine Franz, das jüngste Mitglied der Kommission - naiv. Und Rürup? Ein eitler Gockel. So wie der Riester seine Riester-Rente bekommen habe, möchte der mit dem Begriff Rürup-Pauschale - seinem Vorschlag einer Kopfpauschale im Gesundheitssystem - in die Geschichte eingehen!
Und dass man nun unter immensem Zeitdruck Ergebnisse vorzeigen müsse, sei doch nur deswegen so, damit der Kanzler zur Tagung des Internationalen Währungsfonds im Sommer die Botschaft ins Ausland senden kann: Deutschland ist fähig zur Reform! Zur Deregulierung! Zur Liberalisierung! Wir sprengen die Fesseln des Sozialstaats!
Sie streiten, und doch: Die Kommissionsmitglieder sind sich - lagerübergreifend - äußerst ähnlich. Sie reden gern, sie reden schnell, sie sind von sich sehr überzeugt. Sie haben meist rasant Karriere gemacht, und ihre Biografien haben selten Brüche: Sie kennen den Aufstieg, nicht den Fall. Sie glauben fest an Zahlen, Formeln, und obwohl es bei ihrer Arbeit um Menschen geht, um Krankheit und Gesundheit, um Alter und Rente - von Menschen reden sie sehr selten, eigentlich nie. Nächste Woche treffen sie sich wieder.
Ein Fazit?
Die Mitarbeiterin, die die Gespräche abtippte, schrieb unter den letzten Satz: "Mein Gott. Die bestimmen über uns. Armes Deutschland."