Energieversorgung Eine neue Pipeline vor Borkum soll Deutschland mit Gas versorgen. Am russischen Tropf hängen wir aber weiterhin

Insel Borkum
Die niederländische Firma One-Dyas plant am Rand des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer vor der Insel Borkum Erdgas zu fördern
© Sina Schuldt / DPA
Mit dem Pipeline-Projekt wurde schon länger geliebäugelt und zugleich gehadert. Der Ukraine-Krieg gab jetzt den entscheidenden Anstoß: In der Nordsee soll ein Erdgasfeld angezapft werden. Aber kann sich Deutschland damit von russischen Importen lösen?

Russland dreht den Gashahn zu. Zumindest für Polen und Bulgarien, wie der Energieriese Gazprom am Dienstag mitteilte. Während sich Polen schon auf diesen Fall vorbereitet hat, werde Bulgarien Hilfe benötigen, schätzt die Energieexpertin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Und wann trifft es Deutschland? Mit Versorgungsenpässen rechnet Kemfert nicht. Dafür seien die Gasspeicher zu gut gefüllt. Laut der Initiative Energien speichern können hierzulande rund 23 Milliarden Kubikmeter Gas gespeichert werden. Damit rangiert Deutschland weltweit auf Platz vier – hinter der USA, der Ukraine und Russland. Die Speicher sind laut einem aktuellen Lagebericht der Bundesnetzagentur zu gut einem Drittel voll.

Und trotzdem rät Energieexpertin Kemfert zu Vorkehrungen, um die Versorgungssicherheit weiterhin gewährleisten zu können. Soll heißen: mehr Gas aus anderen Ländern, die Speicher im Sommer füllen und im Winter Energie einsparen. Für den FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Deutschland von einem russischen Lieferstopp betroffen sein könnte. (Was der Lieferstopp in Polen und Bulgarien für die Bundesrepublik bedeutet, lesen Sie hier.)

Gasvorkommen direkt vor der Haustür

Eien Teil seines Energiebedarfs deckt Deutschland bereits aus eigenen Reserven. Etwa beim Öl. In der Nordsee wird hierfür bereits an zwei Stellen gebohrt. Auch ein Erdgas-Projekt wird seit geraumer Zeit debattiert. Im deutsch-niederländischen Grenzgebiet, 20 Kilometer nördlich von der Insel Borkum in der Nähe des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer erstreckt sich ein Gasfeld, das laut Niedersachsens Wirtschaftsminister Bernd Althusmann ein Volumen von 60 Milliarden Kubikmetern umfasst. Dieses wurde vor fünf Jahren entdeckt. Das dort vorkommende Gas soll von dem niederländischen Unternehmen One-Dyas gefördert werden und zu gleichen Teilen an Deutschland und die Niederlande gehen. Der Ukraine-Krieg erweist sich für das Vorhaben als Glücksfall, denn die rot-schwarze Regierung in Niedersachsen hatte das Projekt eigentlich schon fast abgeschrieben.

Erdgasprojekt vor Borkum
An der Grenze zu den Niederlanden, 20 Kilometer von der Nordseeinsel Borkum entfernt, befindet sich das Gasfeld
© DPA / Picture Alliance

Vergangenen Sommer hatte sich die Landesregierung zunächst gegen das Vorhaben positioniert. Angesichts der Unsicherheiten bei der Energieversorgung durch den Krieg in der Ukraine rückte sie wieder von dieser Position ab und sprach sich für eine Neubewertung aus. Laut Althusmann handelt es sich um das "größte Erdgasfeld seit 25 Jahren, das die Niederlande dort erschließen will". Erst vergangenen Mittwoch haben sich das Wirtschaftsministerium in Hannover und One-Dyas auf Eckpunkte für die Gasförderung verständigt. So soll etwa das unter deutschen Hoheitsgewässern geförderte Erdgas dem deutschen Markt zur Verfügung gestellt werden, heißt es im Entwurf einer gemeinsamen Erklärung. Über die Erklärung muss das Landeskabinett in den kommenden zwei Wochen entscheiden.

Genehmigt werden muss das Projekt danach erst noch vom Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie (LBEG). Läuft alles nach Plan, könnte das erste Gas nach Angaben von One-Dyas Ende 2024 gefördert werden – also genau dann, wenn sich Robert Habeck endgültig von den russischen Lieferungen lösen möchte.

Pipeline-Projekt mit Bedenken

Einzige Bedingung: Der Nationalpark und die umliegenden Inseln müssen geschützt werden. Für Unmut sorgt das Projekt genau deshalb bei den Umweltverbänden und den Grünen im niedersächsischen Landtag. Es könne nicht sein, "dass in Zeiten der Klimakrise und eines gewaltigen Artensterbens weltweit – trotz aller Entwicklungen rund um den Ukraine-Krieg – weiterhin auf die Förderung fossiler Energien gesetzt wird", kritisierte etwa Holger Buschmann, Landesvorsitzender des Nabu Niedersachsen.

Borkums Bürgermeister befürchtet, dass die Bohrungen Erdbeben und ein Absenken der Insel auslösen könnten. Zudem könnten Schadstoffe ins Meer gelangen, die schließlich an den Stränden der Nordseeinseln angespült werden könnten. Eine Bedrohung für den Tourismus befürchtet Bürgermeister Jürgen Akkermann.

Die Bedenken wies Althusmann zurück: "Die umweltschutzfachlichen Verfahren, sowohl auf niedersächsischer Seite als auch auf niederländischer Seite kommen derzeit nach meiner Einschätzung zu dem Schluss, dass keine Umweltgefährdung besteht." Dem Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie (LBEG) will One-Dyas laut dem Minister zudem "umfassende Kontrollmöglichkeiten" einräumen.

Ob sich das Projekt rechnet, ist allerdings eine andere Frage. Nach Angaben von One-Dyas könnten jährlich zwischen zwei bis vier Milliarden Kubikmeter Gas gefördert werden. Die Deutsche Welle berichtet gar von fünf Milliarden. Insgesamt liegt der Bedarf in Deutschland bei 90 Milliarden Kubikmetern im Jahr.

Das "Take or Pay"-Dilemma

Abgesehen von den umweltbezogenen Bedenken gibt es aber noch einen Haken. Wie ein Team des politischen Fernsehmagazins "Frontal" herausfand, kommt Deutschland bis 2030 nicht aus den mit Russland abgeschlossenen Gasverträgen raus. Das Versprechen von Wirtschaftsminister Habeck, bis 2024 kein russisches Gas mehr zu beziehen, ist zwar möglich, der Preis dafür aber umso höher. Denn Deutschland hat sich langfristig zu russischen Gasimporten verpflichtet.

Das begann bereits in den 1990er Jahren, als der börsennotierte Chemiekonzern BASF in Geschäfte mit Gazprom einstieg und die erste Gaspipeline nach Ludwigshafen baute. Für einen Vorzugspreis beim Gas verlegten die Konzerne bis in die 2000er hinein weitere Rohre von Sibirien nach Deutschland. Die Bundesrepublik erhielt damit einen Standortvorteil, gleichzeitig wuchs die Abhängigkeit zu Russland. 2005 verkündete Gerhard Schröder stolz, Deutschland sichere sich die Energieversorgung auf Jahrzehnte. Und seine Nachfolgerin Angela Merkel kündigte an, die strategische Partnerschaft weiter auszubauen. Der Krim-Krieg konnte dem nichts anhaben, stattdessen überließ BASF Gazprom sogar zwei Gasunternehmen und Deutschlands größten Gasspeicher. 2015 bekräftigte der damalige BASF-Vorstandsvorsitzende, Kurt Bock, die Kooperation mit Gazprom sei für die nächsten 20 bis 30 Jahre ausgelegt.

Bis 2030 hat sich Deutschland dazu verpflichtet, jährlich 40 Milliarden Kubikmeter Gas abzunehmen. Sollte das nicht passieren, muss die Menge bezahlt werden, die nicht abgenommen wird. Die Verträge funktionieren nach dem "Take or Pay"-Prinzip. Würde Habeck seine Pläne umsetzen und die Gaslieferungen für Deutschland ab 2024 oder schon eher kappen, müssten die 40 Milliarden Kubikmeter bis 2030 dennoch bezahlt werden – für Gazprom ein lukratives Geschäft.

Über einen Gasboykott könnten die Verträge hinfällig werden. Dagegen wehrt sich aber die deutsche Industrie, allen voran der Konzern BASF. So bleibt Deutschland – Gasförderung vor der eigenen Haustür hin oder her – nur, bis 2030 weiterhin Gaslieferungen aus Russland zu beziehen. Sie auszuschlagen, wäre ein reines Minusgeschäft.

Quellen: Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, One Dyas, GDPN, Initiative Energie Speichern, AGSI, Frontal 21, NDR, Deutsche Welle, "Wirtschaftswoche", NABU Niedersachsen, mit Material von DPA

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