Scilly Islands Wo die Südsee im Atlantik liegt

Im Meer vor Cornwall findet man sie, die britischen Scilly Islands. Mildes Golfstrom-Klima, tropische Vegetation, skurrile Bewohner und ein stets im Frühjahr startendes Bootsrennen sind hier die Highlights.

Wenn die Wangen vom Westwind glühen, wird es Zeit fürs Panoramafenster. Schnell zurück in die Pension, sich in die Plüschgarnitur flegeln und den Wolken beim Türmen zuschauen. Der Blick geht über den Hafen zum Horizont, in der Ferne schimmert ein Leuchtturm. Wellen klatschen gegen den Pier, Möwen ziehen kreischend ihre Kurven. Manchmal stehen sie im Wind, manchmal fallen ihnen Krabben aus dem Schnabel - welch ein Schauspiel. Dann schlurft Mrs. Simpson, die föhnfrisierte Zimmerwirtin, ins Plüschparadies und fragt höflichst, ob wir diesen schönen Nachmittag wirklich auf dem Sofa verbringen möchten. Und schickt uns nach einem Whiskey wieder in den Wind. Wer sich mal richtig durchlüften lassen will, sollte auf die Scilly Islands reisen. Noch nie gehört? Den Finger auf die Landkarte und ihn von Englands südwestlichster Spitze ein wenig nach links schieben, Richtung Amerika. Nicht so weit, es sind nur 24 Seemeilen westlich. Dort liegen rund hundert Felsbrocken im Meer, umtost von der See. Der Golfstrom bringt feuchtwarmes Klima, der Frühling beginnt im Oktober, wenn die Narzissen knospen. Die Winter sind warm wie die in Nizza. Hier wachsen Zitronen und auch Palmen.

Auf den fünf grössten Felsbrocken, mal einen Kilometer, mal drei Kilometer breit, verteilen sich 2000 Menschen. Von London fährt man mit der Bahn durch Cornwall ans englische Ende der Welt und von dort weiter mit Helikopter oder Fähre. Sonntags, das sei hier gleich gesagt, fährt die "Scillonia" nicht, das hat die Gewerkschaft durchgesetzt. Gut so. Ist schon Theater genug, wenn einmal im Jahr Prinz Charles mit seiner Entourage einfällt, auf St. Mary's landet, sich im eigenen Häuschen umzieht und dann zum Hotel auf Tresco übersetzt.Sind ja alles keine Entfernungen hier. Von der Landebahn in die Stadt braucht der Inselbus, ein Austin von 1948, nur wenige Minuten. Genug Zeit für den Chauffeur, um das Wichtigste zu erklären: Zeitungen gibt es bei Mrs. Mumford hinter der Post, Mr. Morley verkauft dicke Socken. Cornish Clotted Cream zum Fünf-Uhr-Tee nimmt man am besten im Garten des alten Forts, im Old Town Inn ist abends Tauziehen. Der Busfahrer erzählt von der kleinsten Football-League der Welt - zwei Teams - und dass sich auf dem Friedhof mal ein Mann stehend beerdigen ließ, um beim Jüngsten Gericht als Erster auf den Beinen zu sein. Er wartet schon seit 200 Jahren.

Engländer, die zur Übertreibung neigen, nennen die Scillys "Südsee", denn das Wasser in den Buchten glänzt smaragdgrün, und Besucher sind abends blau wie Lagunen. Das liegt an den vielen Pubs mit Panoramafenstern und den Tresen mit Fernsicht. Fähren verbinden die wichtigsten Spelunken. Pub-Pendeln zählt zu den Hauptattraktionen. Morgens zum Kaffee ins "Mermaid" auf St. Mary's, wo Queen Mum überm Tresen selig lächelt. Mittags zum Bier in den "Turks Head" auf St. Agnes, direkt am Anleger. Dort hängt unter dem Zapfhahn ein Zettel. "Mann sucht Frau mit Boot. Sie sollte kochen können und ein Boot besitzen. Zuschriften mit Bild (vom Motor) an..." Zum Abendessen geht es rüber nach St. Martin's, einem Sehnsuchtsziel im Atlantik: Alte Steinmauern säumen schmale Wege, in den Gärten duftet der Ginster. Ein Schild weist zu Adam, einem schrulligen Fischer, bei dem es für 8,50 Pfund Lobster mit Chips gibt. Seine Frau bindet Blumensträuße. Die wenigen Häuser des Eilands sind unterteilt in Unter-, Mittel- und Oberstadt. Den Strand schmücken Bambushütten; der Sand ist so fein, dass er zu Zeiten des Federkiels zum Trocknen der Tinte benutzt wurde.

Tracy, die schöne Kellnerin, serviert Cocktails. Hier weht der Union Jack unter Palmen, und der Brite träumt noch vom Empire. Das Wasser ist zum Küssen schön, ein bisschen kalt zwar, aber zum Gucken reicht's. Die Luft schmeckt nach Salz und ewigem Frühling. Der Geruch von wildem Knoblauch mischt sich mit dem der Sternhyazinthen, Bluebells genannt. Das ist der Duft der kleinen Welt - Augen zu, Arme strecken und: tief einatmen. So wie der Mann in der Bier-Werbung, nur dass es hier keine Dünen gibt, in die man sich fallen lassen kann. Die Scillys sind wie geschaffen für Menschen, die keine Aufregung vertragen. Vogelgucker kommen her und Strandläufer, Schmetterlingsjäger und Botaniker. Für sie lauern die Sensationen am Wegesrand. Heidekraut und Hartgrasbüschel, Laubtunnel und Wildblumen mit lustigen Namen. "Creeping Water Forget- me-not" zum Beispiel, ein Vergissmeinnicht. "Scarlet Pimpernel", "Stinking Iris", "Lady's Bedstraw".

Höhepunkt für Florafreunde ist ein Besuch der Abbey Gardens auf Tresco. Hier hatten einst Benediktinermönche einen Garten Eden angelegt, bevor ein englischer Großbürger ihr Erbe antrat. Er sammelte Bäume und Büsche aus allen Teilen des Empires, nun wachsen über 20000 subtropische und tropische Pflanzen auf den Scillys. Am Garteneingang steht: "Dummes Zeug machen verboten." Ein Aufpasser vermeldet stolz die Aufzucht und Hege der nördlichsten Bananenstaude der Welt. Dem Mann bitte nichts von den Isländern erzählen, die jetzt auch Südfrüchte züchten, weil sie so viele heiße Quellen haben. Auf Tresco duckt sich das Heideland unterm Wind, hinter gewaltigen Granitfelsen tollen Seehunde. Beim letzten Marathonlauf drehten 118 Müßig-Männer und -Frauen sieben Runden. Es wird dann richtig voll zwischen den Tamariskenhecken. St. Mary's bietet auch einen Rundkurs fürs Fußvolk. Vorbei an Farnwäldern und Blumenfeldern, Sandbuchten und Hünengräbern. Hier sollen die mythischen Helden Britanniens beerdigt sein und die Ritter der Tafelrunde Schutz gesucht haben. Wo sich um König Artus und sein sagenhaftes Land Lyonas Legenden bilden, stehen heute Männer im Trenchcoat auf einer Klippe und feuern auf Tontauben. Schilder warnen vor Querschlägern.

"Die Scillonians", sagt Wolfgang Peil aus Hannover, "sind sehr speziell." Der deutsche Kaufmann reist oft her. Er sammelt Inseln wie andere Briefmarken. Der Privatier mag Gegenden, wo die Menschen ihre Macken pflegen. Auch Peil hat eine: Er verkauft Wetterstationen für die Hosentasche. Die Geräte berechnen Breitengrade und Mondphase, Luftdruck und Sonnenaufgangszeiten. Auf den Scillys, wo Schmetterlinge mit Hilfe westlicher Winde aus 5000 Kilometer Entfernung einschweben, bedeutet ein solches Gerät feinen Zeitvertreib. Peil mag Orte, wo es so richtig nichts zu tun gibt. Es sei denn, man kommt Anfang Mai. Dann nämlich laden die Scillonians zur Weltmeisterschaft im Lotsenbootrennen. Gig Race heißt das hier. Der Wettbewerb erinnert an jene Zeit, als die Väter Geld damit verdienten, Schiffe sicher durch die schroffe Felsenwelt zu manövrieren. Wer als Schnellster aufs offene Meer rudern konnte, bekam den lukrativen Lotsenjob.

Vergangenes Jahr waren mehr als 100 Teams am Start. Frauen und Männer, alte und junge, blinde Sportler und Seh-Leute. Aus Holland, Dänemark und den Grafschaften Großbritanniens. Mehr Welt braucht hier keiner. Auch die amerikanische Flagge wehte am Strand von St. Mary's eher aus Verbundenheit mit dem nächsten Nachbarn im Westen. Der Antrieb der Boote erfordert viel Kraft: Die schnellsten schaffen die 1,5 Seemeilen in 20 Minuten gegen den Wind. Fans begleiten sie auf Fischerbooten und Seglern hinaus aufs Meer. Zwei Tage dauert das Spektakel; wer gegen wen antritt, ist für den Besucher schwer nachzuvollziehen. Die Gewinner bekommen einen Pokal, ein Bild im "Inselboten" und sind Ehrengäste beim Lagerfeuer am Abschlussabend. Beim Gig Race in Hugh Town ist die Hauptstraße voller Männer und Frauen mit Sitzkissen unterm Arm. Sie laufen barfuß mit einem Bier in der Hand. Und die drei Inselpolizisten laufen Streife mit Taschenlampen.

Die Bobbys mag niemand so richtig. Erstens müssen die Insulaner sie aus eigener Tasche bezahlen, und zweitens braucht sie keiner. Den größten Einsatz erlebte die Inselpolizei 1974, als sie zu einer Razzia ins "Mermaid" am Hafen ausrückte: Der Wirt hatte noch um Mitternacht Bier gezapft. Die Trinker rächten sich mit einem Scherz: Sie verkleideten sich als Polizisten und sorgten vor der Sperrstunde für ordentlich Verwirrung. Die Scillonians gefallen sich als Anarchisten und Freibeuter, stolze Ahnen von Schmugglern und Piraten.

In den rauen Jahrhunderten, vor Erfindung von Leuchttürmen und GPS-System, waren sie so etwas wie Aasgeier der Geschichte. Regelmäßig strandeten große Schiffe vor den felsigen Inseln. Wenn nichts mehr zu retten war und auch der letzte Hund das sinkende Schiff verlassen hatte, wurde geplündert. "Lord, lass kein Schiff sinken", bat in der Kirche der Pastor. "Wenn es aber sein muss, dann vor unseren Inseln." Die Chronik der Schiffbrüchigen im Inselmuseum erinnert an viel Leid, von der klammheimlichen Freude der Scillonians wird nur nach dem dritten Bier im Pub erzählt. Viele Türen auf den Inseln stammen von Schiffen, die Cafés sind heute voll mit seltsamen Strandgütern. In der "Shipwreckbar" in Hugh Town sind die schönsten Reliquien zu besichtigen.

Heute kommen keine goldbeladenen Dschunken mehr vorbei und auch keine mächtigen Dreimaster wie Admiral Nelsons Schiff "Colossus", das 1798 die Schlacht am Nil überstand, nicht aber die scharfen Kanten der Scillys. Oder der deutsche Vergnügungsdampfer "Schiller", von dem Tanzkleider ans Ufer spülten. Das letzte Schiff, das die Scillonians beglückte, war 1997 der Containerfrachter "Cita". Der hatte Schuhe an Bord. Sechs Monate dauerte es, bis die Inselfrauen passende Paare sortiert hatten. So erzählt man es zumindest in den Pubs. Auf dem Schiff gab es auch noch jede Menge Windeln. Darüber waren die Scillonians nicht amused. Und stellten dem Marktführer in Sachen Babypopos die Reinigung ihrer Felsen in Rechnung. Alles können sie nun wirklich nicht gebrauchen.

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Uli Hauser

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