Mimi! Unmöglich. Die Stimme mag nett sein. Aber wie unelegant diese Mimi ist. Schwerfällig und kein bisschen kokett. Zugegeben, wir sind eifersüchtig. Ja, wir gönnen dieser Mimi ihren hinreißenden Rodolfo nicht! Wir sehen in der Zürcher Oper "La Bohème" und fragen uns: Wieso ist Rodolfo, dieser wild gelockte Götterliebling, hinter so einer her? Das Verführerische, das ihr abgeht, darüber verfügt er umso mehr. Wie er sie flutet mit seiner herrlich reichen dunklen Stimme. Wie empfunden er die Schlagerarie "Che gelida manina" singt, es zerreißt einem das Herz: Diesem armen Poeten würde man noch in die ungeheizteste Dachstube nachsteigen.
Der Tenor Jonas Kaufmann, jener Rodolfo, der in Zürich jüngst so gefeiert wurde, habe "das Aussehen und die Lässigkeit eines Rockstars", schrieb "New York Magazine". "Brangelina sings!", jubelte das Blatt, als Kaufmann mit der Starsopranistin Angela Gheorghiu an der New Yorker Met "La Traviata" sang, und fand, die beiden könnten es ohne Weiteres mit "Tom und Katie" oder "Brad und Angelina" aufnehmen. Der Deutsche, so urteilte auch die "New York Times", füllte das riesige Haus "wunderbar mit müheloser Klarheit".
Lässig wie ein Rockstar
Die Sache mit dem Aussehen und das mit dem Sex-Appeal, das sei ihm egal, solange die Leute darüber nicht seine Stimme vergessen, sagt Kaufmann beim Treffen in London, wo er, diesmal mit Anna Netrebko, die "Traviata" probt. "Ich glaube ja auch, dass die Zukunft der Oper darin liegt, ein Gesamtspektakel zu bieten. Aber das Wichtigste muss doch die Stimme bleiben." Neulich, erzählt er, habe er ein Interview mit einem Schweizer Stylemagazin gehabt, das sei etwa so gegangen: "Was tun Sie, damit Sie so schön sind? - Gar nichts, wieso? Das ist halt so, wie's ist. - Sagen Sie uns ruhig: Was machen Sie für Diäten, was für Sport? - Ich dachte, Sie interviewen mich, weil ich Sänger bin."
Lieber hört er dann schon, dass er "vermutlich der größte deutsche Tenor der letzten Jahrhunderthälfte" ("The Guardian") sei oder als der "Hoffnungsträger der deutschen Klassikszene" gilt - obwohl ihm auch dabei ein wenig mulmig wird.
Er trägt einen gestreiften Pullover, Pelzstiefel, die Jeans sind am Knie zerschlissen. Er sieht tatsächlich irrsinnig gut aus, viril und sensibel zugleich, wie eine ideale Traumpaarhälfte. Er lacht (er lacht überhaupt gern und laut): Das mit dem Traumpaar passiert ihm fast immer - ob er nun mit der Gheorghiu singt, mit Christine Schäfer, der Französin Natalie Dessay oder der schönen Anna wie jetzt.
Die Anna sei einfach reizend und süß und "abartig spritzig", schwärmt Kaufmann: "Was die für ein Sprühen hat! Da muss man schon ordentlich mithalten, sonst räumt die hier gnadenlos ab."
Seine Stimme ist kraftvoll und farbenreich
Das schafft er schon, der Jonas Kaufmann. Der gebürtige Münchner (fünf Sprachen fließend, selbst Schwytzerdütsch) ist ebenso bescheiden wie selbstverständlich selbstbewusst. Er weiß, dass er eine Ausnahmestimme besitzt. Morgens singt er sich bis zum Es ein, eineinhalb Töne über dem hohen C, "und in der Tiefe kann ich sogar Bässen Konkurrenz machen". Er ist Tenor, aber seine Stimme ist ungeheuer kraftvoll und farbenreich, er verfügt über zarte Höhen ebenso wie dunkel leuchtende Tiefen. "Mit seiner vollen, warmen Stimme, die reich an rötlichen und tiefdunklen Tönen ist", schreibt "The Telegraph", "singt er Italienisch und Französisch mit der gleichen Souveränität wie seine Muttersprache."
In die Wiege gelegt war ihm dies nicht. Er kommt aus keiner Musikerfamilie. Aber seine Eltern - sein Vater arbeitete als Jurist bei einer Versicherung - interessierten sich für Theater, Oper und Konzerte und nahmen die Kinder früh mit. "Angeblich wollte ich schon als kleiner Junge Sänger werden - wie andere Lokomotivführer." Jonas sang im Knaben- und im Schulchor, später finanzierte ihm der Großvater Gesangstunden. Aber nach dem Abitur studierte er erst einmal Mathematik, "um etwas Gescheites zu machen". Nach dem vierten Semester wechselte er endgültig an die Münchner Musikhochschule.
Sein erstes festes Engagement erhielt er 1994 in Saarbrücken - und geriet in eine schwere Krise. "Man sang dort acht bis zehn Stunden täglich. Proben morgens, Proben nachmittags, und abends die Aufführung, mitunter drei verschiedene Produktionen am Tag." Seine Stimme, seinerzeit ein leiser, heller, weicher Tenor, eine typisch deutsche Tenorstimme, wie man sie ihm dringend angeraten hatte, versagte. Bis er in dem Amerikaner Michael Rhodes auf einen Lehrer traf, der ihm Mut machte, seiner eigenen Stimme zu folgen. "Ich habe erst sehr spät begriffen, dass da viel mehr ist als die hohen Töne. Dass ich zu einer ganz anderen Stimme finde, wenn ich den ganzen Körper einsetze." Das Erstaunlichste aber war, dass die neue volle und dunkle Stimme, mit der er nun sang, ihn nicht kaputt machte, wie alle behaupteten. Dass sie im Gegenteil viel belastungsfähiger war und ihn entspannte. Kaufmanns Repertoire reicht heute von Mozart über die Franzosen und Italiener bis zu Carl Maria von Webers Freischütz und Wagner.
Er arbeitet mit den berühmtesten Kollegen
Mittlerweile hat er an fast allen bedeutenden Häusern der Welt gesungen und an der Met, an der Londoner Covent Garden Oper und der Mailänder Scala fulminante Debüts hingelegt. Auch in Salzburg wird er in diesem Sommer wieder singen. Er arbeitet mit den berühmtesten Sängerkollegen und den einflussreichsten Dirigenten. "Eigentlich", sagt er, "habe ich meine Karriere. Was die Opernbühne anlangt, habe ich im Grunde alles erreicht."
Seltsamerweise aber hat sich die glänzende Laufbahn des Jonas Kaufmann weitgehend im Verborgenen abgespielt. In seinem Alter war Fritz Wunderlich, der legendäre deutsche Tenor, bereits drei Jahre tot. Der mexikanische Senkrechtstarter Rolando Villazón ist drei Jahre jünger als Kaufmann und stand fast schon vor dem Karriere-Aus, nachdem er vergangenen Sommer unter weltweiter Anteilnahme eine gravierende Stimmkrise durchlitt. Jonas Kaufmann, der in diesem Jahr 39 Jahre alt wird, startet erst jetzt richtig durch. Unlängst unterzeichnete er einen Exklusivvertrag mit dem Musiklabel Decca, soeben erschien dort seine erste CD ("Romantic Arias"). Es gibt zwei Konzerte in München (24.2.) und Hamburg (28.2.), weitere CDs sind geplant, die Marketingmaschine läuft.
Warum erst jetzt, Herr Kaufmann? Er habe lange eine gewisse Scheu vor der Bindung an ein Label gehabt, sagt er, "ich dachte: Wer weiß, wo das alles hinführt". Seine Familie, die in München lebt, ist ihm wichtig, seine Frau, eine Mezzosopranistin, und die drei Kinder, neun, vier und ein Jahr alt. "Ohne meine Familie könnte ich nicht so singen, wie ich singe", sagt er, "sie ist mein Rückhalt." Und jetzt - werden wir ihn nun womöglich irgendwann auch auf Waldbühnen sehen, in Stadien und auf Derbyplätzen? "Nur um der Show willen nicht", sagt er, "aber wenn es ein seriöses Programm ist - warum nicht?"
Dass er dabei einbrechen könnte wie sein Kollege Villazón, darum muss man sich bei Jonas Kaufmann wohl eher weniger sorgen. Als Villazón vergangenen Sommer erkrankte und die Baden-Baden Gala mit Anna Netrebko und Elína Garanca absagen musste, da bekniete die Plattenfirma Kaufmann, Rolandos Part zu übernehmen. Doch der sang in München gerade eine Missa solemnis und nahm seine CD auf. Tat ihm leid. He does it his way.