Hamburger Stadtderby St. Pauli gegen HSV – eine Schneeballschlacht

Zweikampf im Schneegestöber: Miro Muheim vom HSV (unten) und St. Paulis Elias Saad fighten um den Ball
Zweikampf im Schneegestöber: Miro Muheim vom HSV (unten) und St. Paulis Elias Saad fighten um den Ball
© Marcus Brandt / DPA
Das einzige echte Derby im deutschen Fußball wird entschieden durch die Panne des Jahres – und durch die Witterung.

In der Stadt Hamburg leben, vereinfacht gesagt, zwei Sorten von Menschen: Jene mit Raute im Herzen und solche mit Totenkopf auf der Brust. Ein paar wenige norddeutsch Unaufgeregte mag es außerdem geben, die das eine gut finden, ohne das andere zutiefst zu verachten. Wer durch die Teile der Stadt fährt, die nicht im Großraum St. Pauli / Altona liegen, kann in vielen Vorgärten die HSV-Fahne entdecken und viele Stromkästen zählen, die mit dem HSV-Farbdreiklang schwarz-weiß-blau getüncht wurden. Der FC St. Pauli ist überall da präsent, wo die Leute Fußball für mehr als eine Sportart halten, für ein Lifestyle-Ding, ein Freizeit-Accessoire, bei dem die gute Gesinnung gratis mitgeliefert wird. 

HSV-Fans dagegen scheinen mit einer hohen Schmerztoleranz gesegnet: Auch im sechsten Jahr der Zweitliga-Zugehörigkeit liefert der Club, der lange Zeit eher für Chaos in der Führungsetage bekannt war, immer mal wieder ein hohes Maß an Unordnung auf dem Rasen, vor allem bei Auswärtsspielen. Das wird auch gleich eine Rolle spielen.

Begegnen sich HSV- und Pauli-Fans im Alltag, halten sie es wie Freunde, die beschlossen haben, beim Abendessen nicht über Politik und Religion zu reden. An zwei Tagen im Jahr aber ist Stillhalten keine Option mehr, dann heißt es, Farbe zu bekennen: Braunshirt oder Rothose. Dann ist Derby-Zeit, an diesem Tag zum 110. Mal (bislang 69 Siege für den HSV, 24 für St. Pauli, 16 Unentschieden). Da geht auch der Bürgerpuls hoch, da lockert der Pfeffersack seinen Krawattenknoten, da holt der Senator seinen Fanschal vom Garderobenhaken. Der FC St. Pauli, rund 27.000 Mitglieder und mit einem Jahresumsatz von zuletzt knapp 62 Millionen Euro, gegen den Hamburger Sportverein, mehr als 100.000 Mitglieder und knapp 112 Millionen Euro Umsatz. Totenkopf, vor dem 15. Spieltag auf Platz 1 der Tabelle, gegen Raute, Platz 2.

St. Pauli vs. HSV – das einzige echte deutsche Derby 

Hamburg, von der Schmach geplagt, die einzige Metropole Europas ohne Erstligaclub im Männerfußball zu sein, steht für einen Abend im Flutlicht der nationalen Aufmerksamkeit. Aber, für alle Romantiker, hier findet das einzige wirkliche Derby des Landes statt, das gibt es in keiner zweiten deutschen Stadt. Selbst wenn Union und Hertha in einer Liga spielten, würde kein Berliner auf die Idee kommen, das ein Derby zu nennen, eher eine Auslandsreise. In München gibt es schon lange keine Stadtkonkurrenz zum FC Bayern mehr. Noch etwas Würze? Die Trainer, Fabian Hürzeler und Tim Walter, mögen einander nicht. Die Fans mögen einander noch viel weniger und bekommen deswegen im Stadion keinen Alkohol ausgeschenkt. Um den Gästeblock ist ein riesiges Netz gespannt, das Wurfgeschosse abfangen soll. 

Schon am Nachmittag kreiste ein Hubschrauber über dem Viertel, und – als wäre noch nicht genug Action an der Elbe – es läuft die Winterausgabe des Dom, des größten Rummels in der Stadt, direkt neben dem Millerntorstadion. Wer Riesenrad fährt, kann von oben aufs Spielfeld blicken. Da wäre es eine Option, viele Fahrscheine á 7 Euro zu erstehen, statt den Schwarzmarktpreis für ein Ticket zu bezahlen. Die Frage ist: Welche Fans gehen nach dem Spiel auf die "Wilde Maus", welche in die Geisterbahn "Zombie"?

Wer ein Ticket hat, der kommt pünktlich zur Show, denn vor dem Spiel wird angeglüht, alkoholfrei. Während die Spieler sich aufwärmen, läuft über die Stadionlautsprecher "Dirty Ol‘ Town", gesungen vom gerade verstorbenen Sänger Shane MacGowan, der überhaupt nicht alkoholfrei gelebt hat. Der spanische Kollege auf der Pressetribüne fragt, ob er das Wort "Totenkopf" richtig geschrieben habe, und auch danach dürfte er sich gewundert haben, dass so viele Spieler vom FC St. Pauli mit Nachnamen "Fußballgott" heißen. So ruft es das Publikum, als die Aufstellung verkündet wird. Und dann rieselt der Schnee.

Heuer Fernandez' Unglücksmoment

Der HSV tritt an diesem Abend nicht als Favorit an, die Mannschaft gilt als verunsichert, die letzten fünf Auswärtsspiele brachten zwei Punkte, was für einen Klub, der zum Aufstieg verdammt scheint, viel zu wenig ist. St. Pauli dagegen tritt auf wie das Leverkusen der Zweiten Liga: Fußball voller Überraschungen und mit Erfolg. Da wäre es aus Sicht des HSV ein guter Spielplan, die erste Viertelstunde unbeschadet zu überstehen. Klappt fast: Nach ziemlich genau 14 Minuten und 48 Sekunden nimmt Jackson Irvine einen Eckball an und schiebt die Kugel an der Abwehr vorbei ins Tor. Die HSVler wirken dabei so dynamisch wie eine Bande von Schneemännern. Der Stadionsprecher ermahnt daraufhin das Heimpublikum, das Abbrennen von Pyrotechnik zu unterlassen.

Zwölf Minuten später eine Szene, die ab sofort in jeder Pannenshow im zu sehen sein wird: Der HSV-Torwart Daniel Heuer Fernandez, seit langer Zeit einer der beständigsten Spieler des Klubs und eigentlich viel zu gut für die Zweite Liga, schiebt den Ball zum Verteidiger Stephan Ambrosius, der schiebt ihn weiter zum Mitspieler Guilherme Ramos, der will zurückpassen zum Torwart, doch der Ball kullert in Richtung Torlinie, Heuer-Fernandez eilt, tritt – und trifft den Ball so, dass er steil ins Netz saust. Ein Tor wie ein Unfall mit einem E-Roller, der gegen einen Bordstein stößt: so unglücklich wie peinlich. 2:0 St. Pauli. Und der HSV ist mal wieder der Hamburger Spott Verein.

In der Pause reden die Reporter schon darüber, wer der Nachfolger von HSV-Trainer Tim Walter werde. Der HSV wirkt wie die Bauruine von Immobilienspekulant René Benko, der in der Hafencity den Elbtower errichten wollte. Jetzt ist er pleite. 

Zweite Halbzeit, noch mehr Schnee, der Ball ist nun rot und zieht Spuren durch das weiße Grüne wie ein Ski auf unberührter Piste. Die HSV-Fans versuchen es mit einer Verschleierungstaktik: Sie zünden so viel Pyrotechnik, dass der Stadionsprecher gar nicht mehr aufhört mit dem Ermahnen. Eine Nebelwolke füllt das Stadion.

Hamburger Stadtderby-Bilanz bei 17 Unentschieden

Die Spieler rutschen umher wie Fünftklässler, die zum ersten Mal mit Schlittschuhen aufs Eis gehen. Dem spielstarken FC St. Pauli behagt dies gar nicht. Der gebeutelte HSV aber gleitet innerhalb weniger Minuten zum Ausgleich, Robert Glatzel (58.) und der ansonsten weitgehend indisponierte Immanuel Pherai (60.) treffen zum 2:2. Der Stadionsprecher ermahnt nun die Fans aus beiden Lagern, das Zündeln einzustellen. Er tut dies mit einer Geduld, die sonst nur ein Kita-Erzieher aufbringt, der Finn-Ole bittet, der Hannah nicht mehr den Buntstift ins Auge zu stechen.

Nach etwa 75 Minuten scheinen sich die Spieler darauf verständigt zu haben, die Sache anschließend bei einer Schneeballschlacht zu klären. Die Derby-Bilanz steht nun bei 17 Unentschieden, St. Pauli bleibt Erster, der HSV braucht immer noch keinen neuen Trainer, und die Zuschauer gehen heim zum Abendessen, wo sie bestimmt nicht mehr viel über Fußball reden.

Wie war’s Derby? Derbe!

les

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