Der rote Erdbeer-Pavillon, aus dem frische Erdbeeren in zwei Kilogramm schweren Kartons verkauft werden, liegt direkt an der Bremer Straße. Von hier aus hat Nina Tieker, 20, einen guten Blick auf das Straßen-Geschehen. Der Abiturientin ist nach wenigen Wochen Beobachtung der umgebauten Straße aufgefallen, dass die Verkehrsteilnehmer auf der Straße nun deutlich "vorsichtiger fahren, als zuvor." Fünf Stunden täglich verkauft die junge Frau im Pavillon ihre Erdbeeren und arbeitet im neuen Verkehrsraum namens 'Shared Space'. Hinter dem übersetzt titulierten 'geteilten Raum' verbirgt sich die Verkehrs-planerische Überlegung, die übliche strikte Trennung von Fußgängern Pkw-und Lkw-Fahrern und Radfahrern im Verkehrsraum und auf städtischen Straßen aufzuheben. So soll ein Ort entstehen, in dem alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt handeln.
Innerhalb von nur acht Monaten baute man in Bohmte alle Ampeln und Verkehrsschilder auf der Bremer Straße zwischen der Leverner Straße bis zum 'Am Schwaken Hofe' zurück. Die Stelle galt zuvor als Unfallschwerpunkt. Selbst Bürgersteige existieren dort heute nicht mehr, da Straßenfläche und mögliche Fußgänger-Wege auf gleicher Ebene verlaufen. Weiter entfernten die Straßenbauer den ehemaligen Asphaltboden und verlegten stattdessen rote Steine. So signalisiert man allen Verkehrsteilnehmern den Beginn des 'Shared Space'.
Erhöhte Aufmerksamkeit führt zu vorsichtigem Verhalten
Erfunden wurde das Konzept von dem niederländischen Verkehrswissenschaftler Hans Mondermann. Er legt darin im Straßenverkehr den Schwerpunkt auf die "soziale Kommunikation zwischen den Menschen". Damit ließe sich ein sozialeres Miteinander schaffen, weil Rücksichtnahme für das unfallfreie Gelingen hilfreich sei. Weiter kam der Wissenschaftler zu dem Schluss, dass 'Shared Space' Entschleunigung verursacht." Denn nur wer im freien Raum auf den anderen aufpasse, verhindert Unfälle. Die erhöhte Aufmerksamkeit führt zu vorsichtigem Verhalten auf den Straßen. Weiter wollte der Forscher mit seiner Vision, die er in den 1970er Jahren entwickelte etwas gegen den sich ausbreitenden Schilderwald ausrichten. Selbst an die Mitsprache der Bürger hatte der im Januar 2008 verstorbenen Mondermann im Blick. In Bürgergruppen sollten diese sich intensiv am Umbau ihres Lebensraumes beteiligen, um so ihre Städte schöner und lebenswerter zu machen.
Also handelt im 'Shared Space' jeder Teilnehmer nach seinem Gusto, herrscht gar Anarchie im niedersächsischen Städtchen? Nein, denn immerhin zwei Regeln gelten auch im Konzept des 'Shared Space': alle Verkehrsteilnehmer bewegen sich auf der rechten Straßenseite und wer von Rechts kommt, der hat Vorfahrt.
Keine Unfälle mehr
Im September 2007 begannen die Bauarbeiten. Gute acht Monate später, am 19. Mai 2008 gab man die für 2,35 Millionen Euro umgebaute Straße für den Verkehr frei. Fast 1,17 Millionen Euro der Summe stammen aus Eigenmitteln, die fehlenden 1,18 Millionen Euro wurden aus Mitteln des EU-Förderprogramm 'Interreg 3B' aufgebracht. Dieses Programm legte die Europäische Kommission vor acht Jahren auf, um eine "harmonische und ausgewogene Entwicklung des europäischen Raumes zu fördern." Seitdem unterstützte 'Interreg 3B' 129 Projekte im Nord- und Ostseeraum. Außer Bohmte nutzen den 'Shared Space' europaweit sechs Partner. In der belgischen Stadt Oostende, den Gemeinden Haren und Emmen, der niederländischen Provinz Fryslân, dem dänischen Ejby und im englischen Ipswich brach man alte Strukturen im Straßenverkehr auf.
In Bohmte kommt der Umbau der Bremer Straße gut an. "Früher hat es auf dieser Straße oft gekracht. Nun gibt es keine Unfälle mehr", sagt der Wirtschafter des Hauses Nummer 59 an der Bremer Straße, der seinen Namen nicht verraten möchte. "Ich glaube, dass von Bohmte Impulse für die Verkehrssicherheit in Deutschland ausgehen werden", fügt er an und beschneidet mit seiner Gartenschere weiter die verblühten Rosenstauden im Vorgarten. Seine auch im Garten werkelnde Mitarbeiterin sieht den Nutzen etwas skeptischer: "Wir haben das bislang nur im Sommer erlebt. Aber wie wird das im Winter werden, wenn es nass auf der Straße ist und es schnell dunkel wird? Achten dann auch alle weiterhin auf ihre Mit-Verkehrsteilnehmer?"
Zwischenmenschliche Rücksichtnahme
Von einem weiterhin gut funktionierenden Projekt geht Sabine de Buhr-Deichsel aus: "Wir haben sehr gute Erfahrungen mit dem 'Shared Space' gemacht. Ein Gewinn an Lebensqualität für unsere Bürger, ein Gewinn an Sicherheit für die Verkehrsteilnehmer und die Rückkehr zur zwischenmenschlichen Rücksichtnahme haben wir erreicht", sagt die erste Gemeinderätin. Und spricht anschließend über 41 Unfälle, die es dem vor dem Umbau im Bereich der Bremer Straße jährlich gegeben hätte. Anders klingt die Zahl für die Monate nach dem Umbau der Straße: Null Unfälle zählte man bislang. Die 46-Jährige erklärt sich das Ausbleiben der Unfälle so: "Vorher verließen sich die Menschen zu sehr auf regelnde Systeme. Dem Verkehr ist die neue Gelassenheit deutlich anzumerken."
An die gefährlichen Straßen-Verhältnissen erinnert sich auch Andrea Stubbe. Denn die Kauffrau im Einzelhandel arbeitet im Geschäft "Trendpoint Young Fashion", das an der Bremer Straße liegt: "Früher gab es zu den Stoßzeiten an den Ampeln oft lange Pkw-Rückstaus und der Verkehr verlief zähflüssiger. Selbst eine Fußgängerin fuhr ein Lkw an, der die Kurve nicht richtig nahm." Ihr Chef hatte sich wegen des Fußgänger freundlichen Umbaus positive Auswirkungen auf den Geschäfts-Umsatz erhofft. "Er wünscht sich eine höhere Kundenfrequenz." Doch ob diese bereits eingetreten ist, kann die 23-Jährige nicht sagen. Doch etwas anderes ist ihr besonders wichtig: "Heute sieht unsere Hauptstraße viel schöner aus, als vorher." Andrea Stubbe sagt es und strahlt dabei über das ganze Gesicht.