WEB-KUNST Internet als chaotische, irrationale Collage

Er zerhackt Websites und macht aus ihnen Kunstwerke: Marc Napiers »Shredder« zeigt, dass das Internet nur eine Illusion ist. Irgendwo da draußen muss noch ein Parallel-Web existieren...

Grafisch beleidigen sie das Auge, die inhaltlichen Informationen sind verzichtbar, und mancher Link erzeugt nur eine Error-Meldung: Unter den Millionen Websites gibt es viele, die kaum mehr als digitaler Datenmüll sind. Was, wenn man all diese Seiten mit einem Knopfdruck beseitigen könnte? Für immer dem Nichts übergeben? Mit dem »Shredder«, einem alternativen Browser-Experiment, können Websurfer solch zerstörerischen Gelüsten ein Stück weit nachgehen.

HTML-Codes zerstören, Kunst schaffen

In Gestalt eines Browser kommt der Shredder daher, und wer oben eine URL eingibt, bekommt unten die gewünschte Website in Bruchstücken heraus: Verzerrte Buchstaben, verschobene Bilder, aufeinander gestapelte Zeichen. Durcheinandergewürfelt werden die HTML-Befehle, die hinter einer Website stehen - mitsamt den Bildern und Texten, die eine Site zu dem macht, wonach sie an der Oberfläche aussieht. Doch was nach reiner Zerstörung klingt, sieht in der Web-Wirklichkeit nach Kunst aus und ist auch so gemeint.

Erfinder dieser Web-Art ist der New Yorker Künstler Mark Napier. Warum er das Web zerhackt? Napier will mit seinem Shredder an der Vorstellung kratzen, das Internet sei etwas wie eine Publikation, eine Zeitung, ein Buch. Websites seien keine physische Seite, auf die Texte geschrieben und Fotos gedruckt werden, sondern »nichts anderes als temporäre Bilder, die entstehen, wenn Web-Browser HTML-Codes interpretieren. Der Browser ist ein Wahrnehmungsorgan, durch das wir das Web 'sehen': Er filtert und organisiert eine gewaltige Masse strukturierter Information. Und solange alle Browser der HTML-Konvention zustimmen, ist das Web offenbar beständig.«

Daten gelangen ins Parallel-Web

Doch das ist eine Illusion, sagt Napier, eine grafische, um genau zu sein. Denn was wäre, wenn die HTML-Befehle anders interpretiert würden als vorgesehen? Genau dort setzt Napiers Shredder an: Er präsentiert die scheinbar globale HTML-Struktur als chaotische, irrationale Collage. »Indem der HTML-Code verändert wird, bevor der Browser ihn liest, verwandelt der Shredder die Daten und transformiert sie in ein Parallel-Web.«

In der bildenden Kunst hat »Vergänglichkeit« schon seit Jahrhunderten einen festen Platz als Motiv. Mit dem Shredder wird das Thema in das Medium überführt, das eher schnelllebig denn beständig ist. Mehr noch: Napiers Kunst selbst wird vergänglich. Denn sie existiert nur solange, wie die geschredderten Websites bestehen. Und solange der Rechner eingeschaltet ist.

Mareike Müller

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