Es ist einige Jahre her inzwischen, aber sehr tief muss ich nicht in mich schauen, um sie wieder ganz nahe vor mir zu sehen. So nah, als könnte ich sie riechen. Sie stehen wie erstarrt am Hang, ganz still im Licht, ein großer und ein kleiner Braunbär, Mutter und Kind vielleicht oder ein Sommerausflug von Sohn und Papa Bär. Andere Touristen haben die beiden einige Minuten vor mir entdeckt, überall auf der Straße in dem amerikanischen Nationalpark stehen ihre Autos, überall Menschen mit weißen T-Shirts und silberfarbenen Digitalkameras, die Arme hoch gereckt. Klickerklick machen die Kameras. Ansonsten ist kein Laut zu hören. Auch die beiden Bären halten still. Und ich weiß in diesem Moment: Ich habe riesiges Glück. Denn Bären leben zwar hier im Yosemite, aber nicht jeder Besucher bekommt einen zu Gesicht.
Die Chance nutzen
Also schnell an den Rand fahren, bremsen, Warnblinker an, Handbremse rein - und ich raus. Ich sehe mich noch heute, wie ich mich hastig durch die Menschenmenge wühle, bis ich einen einigermaßen guten Blick habe. Ich zücke meine Kamera; fünf Megapixel, gutes Licht, das muss etwas werden. Dann: Mama oder Papa Bär hebt wie dressiert den Kopf und schaut herüber auf das Gedränge der Paparazzi. Mein Finger zuckt, der Auslöser macht einmal klick, und nach einer Weile senkt der Bär wieder die Schnauze. Das ist das tollste Foto dieses Urlaubs, denke ich, freue mich sehr, steige ein, Warnblinker aus, Handbremse los. Den Bär im Kasten, fahre ich weiter. Ein toller Tag ist das.
Abends im Hotel betrachte ich die Bilder des Tages auf meinem dafür mitgenommenen Notebook. Und hätte in einem Moment gern laut aufgeschrien. Oder ich habe aufgeschrien, ich weiß es nicht mehr genau. Grund dazu hätte ich gehabt, denn: Das Bild der Bären war verwackelt, unscharf, ich glaube, es hat in der Geschichte der Fotografie noch nie jemand ein so verwackeltes und unscharfes Bild gemacht, nicht einmal mit Absicht. Was da zu sehen war, war kein beeindruckendes "Schau mal, die laufen da einfach so frei rum, und ich war ganz nah dran"-Motiv - es waren nur zwei braune Problembärenkleckse auf Grün. Dabei hatte es auf dem eingebauten Monitor der Digitalkamera noch hell und scharf ausgesehen, ein geglücktes Foto war das gewesen am Nachmittag. Ich löschte es. Mein Urlaub lag in Trümmern.
Umdenken
Dieses Erlebnis hat mich auf einen Schlag verändert - oder zumindest mein Fotografierverhalten in freier Natur, auf der Pirsch. Denn in diesem Moment bin ich zum Serienknipser geworden. Nie wieder, habe ich mir geschworen, mache ich nur ein einziges Bild von einer Situation, egal, ob mein Motiv still steht (Baum) oder sich bewegt (Bär), ob es gerade noch hell ist oder dunkel (Dunkelheit beginnt für Digitalkameras spätestens am Spätnachmittag). Ich mache seitdem immer drei, vier, fünf Bilder von allem, das ich fotografiere. Von allem, wirklich. Meine Kamera hat dafür sogar eine Einstellung, die so lange knipst, wie ich ihren Aufnahmeknopf drücke. Ich habe es ausprobiert, mangels Bären an meiner Oma. Die hasst es zwar, fotografiert zu werden, aber da sie schon sehr alt ist, hört sie mein Klickklickklick nicht - und: Es funktioniert! Oft ist das erste Bild verwackelt, andere sind unscharf, warum auch immer, und auf vielen schaut meine Oma zögernd bis säuerlich. Wenn ich aber so lange knipse, bis ich das Gefühl habe, dass es genug ist, dann ist eines der vielen Fotos immer gelungen (was meine Oma dann auch zugeben muss).
Diese Methode kostet viel Platz auf der Speicherkarte, ich weiß. Aber unter uns: Das juckt mich nicht. Denn ich habe immer zwei leere "1-Gigabyte-Speicherkarten" dabei. Die kosten zwar allerhand Geld, verkorkste Fotos jedoch kosten Nerven. Und die sollen noch ein paar Jahre halten. In dem Urlaub damals ist übrigens alles noch gut ausgegangen. Ein paar Tage später habe ich einen weiteren Bären gesehen. Er war ganz allein, mitten auf einer Wiese. Er hat Gras gefressen. Die Sonne schien. Perfekt für einen Schnappschuss. Ich bin so nahe ran, wie ich mich getraut habe, dann habe ich zehn Bilder von ihm gemacht - keines war verwackelt. Ich habe sie alle heute noch.