Editorial Hase und Igel im Irak

Liebe stern-Leser!

Der Weg nach Bagdad führt über Jerusalem. Ein griffiger Gedanke, den Joschka Fischer allerdings nur in kleinem Kreis formuliert. Denn zu undiplomatisch ist die Wahrheit, die in diesem Orakel steckt: Amerika wird den Irak nur befrieden können, wenn aus dem Gegeneinander zwischen Israelis und Palästinensern wenigstens ein Nebeneinander geworden ist. Eine autonome Heimat der Palästinenser, ein Staat, der diese Bezeichnung auch verdient.

Solange die Palästinenser nur für den Kampf gegen ihre jüdischen Nachbarn leben und sterben, bleibt dieser Konflikt eine endlos sprudelnde Energiequelle des islamistischen Terrors, von Bagdad und Riad bis nach New York und Madrid.

Jassir Arafat

hatte sein Leben stets einem Ziel untergeordnet: der Schaffung eines palästinensischen Staates. Nach seinem Begräbnis gibt es nun, ironischerweise, eine echte Chance dafür. Denn ohne den "Terroristen Arafat" fehlt der Sharon-Regierung ihr wichtigstes Argument, sich Verhandlungen mit den Palästinensern zu entziehen. Es könnte auch daher die Stunde des George W. Bush werden - wenn der seine altbekannte Forderung nach einem unabhängigen Palästina nicht bloß wiederholt, sondern sich ernsthaft und persönlich darum kümmert. Gut möglich, dass - vor allem nach dem Rücktritt von Außenminister Colin Powell - Bushs wichtigster Berater Karl Rove diese Linie verfolgt. Er, der seinem Chef die Planstelle im Oval Office sicherte (Seite 100), könnte Bush dann als Friedensstifter inszenieren, um dessen Makel als Kriegstreiber ein wenig zu tilgen. Denn es gilt, was der US-Politologe Francis Fukuyama unlängst geschrieben hat: Nation-Building, der Aufbau von Staaten, "ist zu einer Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts geworden". Es geht um die Fähigkeit, aus zerfallenen Gesellschaften ein funktionierendes Gemeinwesen zu formen, mitsamt staatlichem Gewaltmonopol.

Palästina könnte sich diesem Ziel

nun nähern - während der Irak sich von ihm zunehmend entfernt. Die Aufständischen spielen dort inzwischen Hase und Igel mit den US-Truppen. Halbwegs aus Falluja vertrieben, tauchen sie in anderen Städten wieder auf (Seite 28). Die vergangene, blutigste Woche seit dem offiziellen Kriegsende im Mai 2003 führt Bush seine selbst verschuldete, schier ausweglose Situation erneut vor Augen. Der Wahltermin am 27. Januar wird nicht zu halten sein.

Bevor im Irak die Waffen schweigen, bedarf es nicht nur einer echten Friedenschance in Palästina, sondern auch eines Zeitplans: Die USA müssen einen auf drei bis vier Jahre angelegten Rückzug aus dem Irak beschließen und verkünden! Es bliebe genügend Zeit, Polizei und Militär aufzubauen. Und die Aufständischen hätten vermutlich größere Mühe, neue Kämpfer mit dem Argument zu ködern, man habe die heilige Pflicht, die Amerikaner aus dem Land zu bomben.

Zwar würden Rebellen und Terroristen ein Rückzug-Signal als Sieg feiern. Aber diesen Preis müsste Bush bezahlen, damit ihn der Weg von Jerusalem nach Bagdad führt.

Herzlichst Ihr
Andreas Petzold

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