Von den Deutschen kaum beachtet, hat das türkische Parlament am 4. Dezember ein Gesetz geändert. Nicht irgendeines, sondern die Bestimmungen der Strafprozessordnung: Die Befugnisse der Polizei werden erheblich beschnitten, die Rechte von Festgenommenen und Häftlingen erweitert.
Beispielsweise darf niemand länger als 24 Stunden ohne Haftbefehl festgehalten, Hausdurchsuchungen müssen von Richtern oder Staatsanwälten angeordnet werden, ein Pflichtverteidiger ist vorgesehen - kurzum: Die Strafprozessordnung orientiert sich an dem mitteleuropäischen Rechtsverständnis. Für die Türkei, wo vor wenigen Jahren teils noch finstere Willkür herrschte, ist dies fast revolutionär. Der Köder, als weiterer Staat in den europäischen Klub aufgenommen zu werden, hat die Türkei aus der "Vormoderne" in die neue Zeit gelockt. Der Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der Schweizer Luzius Wildhaber, attestierte Ankara unlängst, die Menschenrechtssituation habe sich "grundlegend geändert". Es wäre zwar naiv anzunehmen, dass es um die Menschenrechte überall in der Türkei schon zum Besten steht. Amnesty International prangert immer noch staatliche Übergiffe an. Aber während der langen Verhandlungszeit bis zu einer EU-Aufnahme - dafür sind etwa 15 Jahre angesetzt - wird der Anpassungsdruck noch zunehmen. Und eben auch die Bereitschaft, sich Europa weiter anzunähern.
Entscheidend dafür ist nicht nur der Wille der Regierung, sondern auch der Wunsch des Volkes. Und da gibt es keinen Zweifel: Knapp 76 Prozent aller Türken sind für einen EU-Beitritt ihres Landes; dies hat jetzt eine repräsentative Umfrage im Auftrag des stern gezeigt (Seite 38). Es ist also nicht nur die Elite des Landes, die ihre Zukunft mit Mitteleuropa verknüpft.
Auf ein anderes Ergebnis
der Befragung werden sich die Beitrittsgegner stürzen: Rund 20 Prozent aller Türken würden gern in Deutschland arbeiten, fast weitere 30 Prozent in anderen europäischen Ländern. Da kommt sie also, die Flut anatolischer Bauern, vor der uns die Union immer gewarnt hat? Bärtige Muslime mit dem Koran im Gepäck stürmen den Arbeitsmarkt zwischen Rügen und Füssen und überschwemmen Deutschland mit Drogen? Das suggerieren zumindest die Subtexte der Union, die sich im Falle eines Beitritts um "zunehmende Bandenkriminalität" und dergleichen sorgt. Im stern-Interview (Seite 50) legt CSU-Chef Edmund Stoiber nach: "Bisher wird den Menschen ja nicht offen gesagt, welche Konsequenzen dies alles hat." Und natürlich müssten die Verhandlungen mit der Türkei "ergebnisoffen" geführt werden - der Lieblingsterminus von Stoiber und CDU-Chefin Angela Merkel. Mit anderen Worten: Die Unions-Oberen wollen sich nicht nur die Hintertür offen halten, sondern sich sogleich davonmachen. Das Verhandlungsziel kann jedoch nur die Vollmitgliedschaft sein, alles andere wäre eine Vergeudung von Geld, Zeit und europäischer Glaubwürdigkeit.
CDU und CSU wollen mit den Türken nur am Katzentisch reden. Das soll Wählerstimmung machen. Der konservative Reformmotor ist verreckt - nun also mit Gebrüll gegen die Türken. Dabei verlieren der Katholik und die Protestantin zwei Aspekte aus den Augen, die schwerer wiegen als ein paar Punkte mehr bei der nächsten Sonntagsfrage.
Erstens: In den kommenden Dekaden dürfte der wirtschaftliche Wettbewerb zwischen den USA, Russland, China, dem übrigen Asien und Europa über Wohlstand und Lebenssicherheit entscheiden. Dafür brauchen wir auch den Partner am Bosporus. Am Ende des Tages macht die Türkei Europa stärker.
Zweitens: Die Chance, ein 72-Millionen-Volk mit friedlichen Mitteln zu demokratisieren und Menschenrechten, Meinungsfreiheit wie Selbstbestimmung Vorrang zu verschaffen, darf sich Europa nicht entgehen lassen. So funktioniert modernes Nation-Building. Dies könnte auch für die Bush-Regierung eine lohnende Erfahrung werden.
Herzlichst Ihr
Andreas Petzold