Liebe Frau Peirano,
ich (19) denke, dass es mir geht wie vielen anderen Frauen. Ich werde immer wieder von Männern eindeutig angesprochen, oder sie pfeifen mir hinterher oder machen Kommentare über mein Aussehen (ich habe große Brüste).
Mir ist das sehr unangenehm, und ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Wenn ich sagen würde: "Lass mich in Ruhe", finde ich das irgendwie auch sehr unfreundlich und außerdem habe ich schon erlebt, dass der Mann dann beleidigend wird.
Eine zeitlang habe ich mich nur mit weiten, unauffälligen Sachen gekleidet, aber es ist trotzdem passiert. Und ich finde auch, dass ich herumlaufen darf, wie ich will, oder?
Einige meiner Freundinnen sehen es locker, wenn sie angemacht werden. Einer Freundin hat mal ein Mann "geiler Arsch" hinterher gerufen, und sie hat nur gelacht und "Danke" gesagt. Ich kann das nicht.
Ich muss dazu sagen, dass meine erste sexuelle Erfahrung eine Art Vergewaltigung war. Ich habe einen Mann kennen gelernt, und der hat dann gedrängelt, dass wir in mein Zimmer gehen. Ich war noch nicht bereit für Sex und wollte es viel langsamer, aber er hat nicht darauf gehört. Er hat mich dann auch festgehalten. Das ist ein Jahr her, aber es kommt immer wieder hoch und ich muss weinen oder habe Erinnerungen daran.
Mir geht es aber jetzt eher um das Thema, wie ich mich vor lästigen Anmachen schützen kann. Meine Freundinnen sagen, ich werde immer angesprochen, weil ich sehr unsicher herüber komme.
Viele Grüße und danke,
Linda T.
Liebe Linda T.,
es ist wirklich unerträglich, dass viele Frauen es tagtäglich erleben müssen, sexuell belästigt zu werden! Das ist keine Bagatelle, wenn Frauen auf ihren Körper oder sogar bestimmte Körperteile reduziert werden, und diese Sichtweise auch noch öffentlich gemacht wird. Das ist für die Frau beschämend und respektlos. Es ist absolut grenzüberschreitend, wenn eine Frau weiß, dass ein Mann oder mehrere Männer sie gerade gedanklich nackt gemacht haben.
Und es ist auch eine Zumutung für die Frauen, dass sie mit diesem Verhalten tagtäglich umgehen müssen. Längst nicht alle nehmen es so locker wie Ihre Freundin, die die Bemerkung über ihren Hintern scheinbar als Kompliment auffasst.
Bemerkungen dieser Art sind aber kein Kompliment, denn ein Kompliment ist als ein Geschenk an den Empfänger gedacht und wird auch so aufgefasst. Diese Bemerkungen sind Ausdruck von sexualisierter Macht und teilweise auch Gewalt gegen Frauen. Um so schwerer ist es, wenn die Frau wie Sie schon ein sexuelles Trauma erlitten hat und/oder wenn sie Angst hat, noch weiter gedemütigt und beleidigt zu werden, wenn sie sich wehrt.

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe
Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht, anschließend habe ich zwei Bücher über die Liebe geschrieben.
Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.
Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.
Es ist bestimmt hilfreich für Sie, wenn Sie sich im voraus überlegen, wie Sie zukünftig mit solchen Situationen umgehen und welche Haltung Sie einnehmen wollen. Ich habe aus Ihrer Schilderung den Eindruck gewonnen, dass Sie sich sehr hilflos und unsicher fühlen und aber auch den Angreifer nicht verletzen wollen.
Ich würde Ihnen empfehlen, eine Haltung aufzubauen oder einzuüben, die solche übergriffigen Bemerkungen nicht als Bagatelle sieht, sondern als Unverschämtheit. So als würde jemand einfach in Ihre Tasche greifen und nach Ihrem Portemonnaie suchen. Sie könnten die Sätze: "Lass mich in Ruhe. Das was du machst, ist unverschämt!" vor dem Spiegel immer wieder sagen und auch dabei darauf achten, ob Ihre Körperhaltung zu dem Inhalt passt (oder zu unsicher und zaghaft wirkt). Vielen Frauen hilft es, wenn Sie körperlich die Erfahrung gemacht haben, dass Sie sich wehren können und dürfen. Das können Sie in einem Selbstverteidigungstraining üben.
Es wäre bestimmt auch mit Ihrer Vorgeschichte wichtig, Ihr Trauma aufzuarbeiten, am besten bei einer Therapeutin, die EMDR kann und auf Traumatherapie spezialisiert ist.
Hier sind noch ein paar Tipps, wie Sie auf bestimmte Übergriffe reagieren können:
- Wenn ein Mann sich Ihnen zu sehr nähert oder Sie anspricht/ Ihnen folgt, können Sie es benennen, was er tut und ihn auffordern, das zu unterlassen. Am Besten siezen Sie den Täter, um durch duzen keine Nähe aufkommen zu lassen.
Zum Beispiel: "Sie stehen zu nah an mir dran. Halten Sie Abstand von mir."
"Sie reden mit mir, obwohl ich das nicht will. Lassen Sie mich in Ruhe."
- Bei übergriffen Äußerungen (z.B. Bemerkungen über Ihre Brust) können Sie sagen: "Lassen Sie das. Das ist unverschämt!!"
In einer solchen Anweisung haben auch die Worte: "Bitte und danke" nichts zu suchen. Es ist auch wichtig, dem Täter keine Fragen zu stellen wie "was soll das?" oder "bist du blöd?", denn Fragen laden zu einer Diskussion ein, und gerade das wollen Sie ja nicht.
Am Besten geschehen solche Zurechtweisungen auch vor anderen, damit deutlich wird, dass Sie den Täter nicht kennen und dass ER sich falsch verhält und nicht Sie.
- Wenn Sie durch Zeichen sexuell belästigt werden (z.B. durch leckende oder den Körper nachformende Gesten), können Sie demonstrativ wegschauen. Einige Expert*innen raten auch, ein Foto mit dem Handy zu machen, da das die Täter verunsichern kann. Sie wissen ja nicht, was Sie mit dem Foto vorhaben.
Es kann sein, dass es Ihnen jetzt sehr schwer und mutig vorkommt so zu reagieren, und auch das kann ich gut verstehen. Deshalb sage ich ganz deutlich, dass die Schuld und das Problem einzig und allein beim Täter oder bei den Tätern liegen.
Keine Frau trägt eine Schuld daran, dass sie sexuell belästigt wird. Und dennoch muss eine Frau irgendwie mit diesen Belästigungen fertig werden. Wichtig ist, dass sie sich nicht noch unter Druck setzt, sich perfekt zu wehren oder die Situation souverän zu lösen. Ein Übergriff ist unangenehm, und das sollte nicht bagatellisiert werden. Und wer sich da einigermaßen tapfer wehrt, hat unglaublich viel geleistet.
Und nicht zuletzt ist Solidarität wichtig: Tauschen Sie sich mit anderen Frauen in entsprechenden Foren aus. Das hilft, zu sehen, dass viele Frauen unter den Belästigungen leiden und gibt Einblicke, wie einige damit umgehen.
Ich hoffe, dass die Information, die Solidarität, das Aufarbeiten Ihres Traumas und einige handfeste Tipps Ihnen dabei helfen, eine klare Haltung einzunehmen und auszustrahlen, die Ihre Grenzen schützt.
Herzliche Grüße,
Julia Peirano