50 Jahre ELTERN Warum Eltern sich gegenseitig anfeinden und Kinderlose sie nicht verstehen

Von der Ohrfeige bis zum Stillen – in 50 Jahren hat sich für Eltern vieles geändert. Seit 50 Jahren gibt es das Magazin ELTERN. Mit der Chefredakteurin sprach der stern über die Dinge, die sich gewandelt haben – und die, die für immer gleich bleiben.

ELTERN ist ein Magazin von und für Eltern: Sogar auf das Cover des Magazins schaffen es nur echte Mamas und echte Papas mit ihren eigenen Kindern. Im Oktober 1966 erschien die erste Ausgabe von ELTERN. 50 Jahre ist das her. Seitdem hat sich für Eltern vieles geändert – und manches wird wohl für immer gleich bleiben. Marie-Luise Lewicki ist seit 26 Jahren Chefredakteurin des Magazins. Während dieser Zeit ist nicht nur ihr eigener Sohn erwachsen geworden. Lewicki kümmert sich seit 1990 um den Nachwuchs ihrer Leser, um gestresste Eltern und all deren echte und eingebildete Probleme. Der stern sprach mit ihr über den Wandel in der Erziehung, Eltern, die sich gegenseitig anfeinden und Kinderlose, die Eltern nicht verstehen.

Frau Lewicki, was sind Eltern für Leute?

Eltern sind sehr mutige Leute, weil sie sich ins größte Abenteuer unserer Zeit stürzen.

Haben Eltern heute andere Probleme als vor 50 Jahren? 

Sie machen sich zum Teil selbst Probleme, weil sie sich auseinanderdividieren lassen, statt sich gegenseitig zu unterstützen. Wenn man sich zum Beispiel die Entwicklung der Akzeptanz des Stillens anschaut: In den 1960ern war man noch überzeugt, das Fläschchennahrung das beste für ein Baby ist, in den Achtzigern gab es dann die Rückkehr zur Natur und somit auch zur Brust. Dann gab es eine friedliche Koexistenz der beiden Parteien. Heute dagegen feinden stillende Mütter Fläschchenmütter oft an. Da war die Toleranz früher größer.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Wir leben in einer Wohlstandsgesellschaft. Das hat dazu geführt, dass sich Lebensstile stark ausdifferenziert haben. Da jeder aber logischerweise seine Art zu leben für die beste hält, entstehen Konflikte. In den sechziger Jahren dagegen hatten alle Eltern ähnliche Probleme und Fragen: Sie wünschten sich eine neue Erziehung, ihre Kinder sollten anders aufwachsen als sie selbst es erlebt hatten. Heute gibt es mehr Antworten als Eltern Fragen haben, und es geht viel mehr um Wettbewerb und Abgrenzung. Dabei gerät aus dem Blick, dass alle Eltern etwas Großes gemeinsam haben: einem Kind einen guten Start ins Leben zu geben. Dabei ist zuviel Perfektionismus gar nicht gut. Das Wichtigste, was man einem Kind beibringen muss, ist nach dem Hinfallen wieder aufzustehen. Das lernen Kinder, indem sie ihre Eltern beim Hinfallen und Wiederaufstehen erleben. Sie sehen: Fehler sind erlaubt – auch meine Mama macht mal welche, vergisst etwas, wird mal laut und entschuldigt sich dann später.

Menschen werden heute viel später Eltern als in den 1960er Jahren. Was bedeutet das für sie?

Ja, das Durchschnittsalter ist inzwischen auf fast 31 Jahre gestiegen. Die meisten waren heute bereits erfolgreich im Beruf, bevor sie Eltern werden. Das verleitet dazu, die Maßstäbe aus dem Berufsleben auf das Elterndasein zu übertragen. Passiert das, geht es viel um Optimierung und Perfektion. Das ist ja auch nicht besonders verwunderlich: Viele junge Eltern wünschen sich lange ein Kind, bevor es dann kommt. Man hatte Zeit, sich alles perfekt auszumalen und will es dann auch richtig, richtig gut machen. Früher hat man sich in vielen Dingen keinen Kopf gemacht: Irgendwie wird das Kind schon groß werden, darauf haben alle Eltern vertraut. Aber damals war die Gesellschaft auch großzügiger Eltern gegenüber. Heute werden junge Mütter und Väter schon sehr kritisch beäugt, und sehr oft kritisiert. Das macht dünnhäutig und lässt das Bedürfnis nach Perfektion weiter steigen.

Was hat sich für Eltern innerhalb der vergangenen 50 Jahre geändert? 

Als ELTERN erstmals erschienen ist, brauchten junge Eltern ein Magazin, das ihnen ihre dringenden Fragen beantwortet. Heute dagegen gibt es so viele Quellen – zu viele. Da dient unser Magazin als Filter: Wir wollen bei der Reduktion von Komplexität helfen.

Wie haben sich Ihre Themen im Laufe der Zeit gewandelt?

Wir haben heute Themen, die es damals so gar nicht gegeben hat. Gestresste junge Eltern, zum Beispiel, tauchen in den ersten dreißig Jahren von ELTERN gar nicht auf. Klar, auch früher schliefen Babys nicht durch, und den Eltern fehlte dadurch die Ruhe. Aber das Kind als Stressfaktor im Leben, das existierte so nicht. Dass das heute anders ist, wundert mich nicht. In den 1960er Jahren, als unsere Erstausgabe erschien, arbeitete einer in der Familie, fast immer der Vater, 40 Stunden in der Woche. Heute arbeiten beide, insgesamt 60 oder 70 Stunden die Woche – weil sie es wollen oder weil das Geld einfach nicht reicht. Die zusätzliche Zeit fehlt logischerweise bei der Bewältigung der Familienaufgaben.

Andere Themen haben sich komplett ins Gegenteil verkehrt: In der Erstausgabe von 1966 war das Titelthema: "Dürfen unsere Kinder uns nackt sehen?" In den Siebziger Jahren hatten wir dann schon ein großes Foto von nackten Kindern am Strand im Heft – da war diese Angst vor Nacktheit plötzlich weg. Und jetzt ist sie wieder da. Heute sind nackte Kinder am Strand kaum noch denkbar – aus Angst vor Pädophilen.

Gibt es Themen, die vor 50 Jahren relevant waren und heute nicht mehr?

Vollkommen an Relevanz verloren hat das Thema körperliche Strafen für Kinder. ELTERN hat sich von Anfang an gegen Ohrfeige, Klaps und psychische Gewalt ausgesprochen. Aber in den 1960er Jahren hat man diese Maßnahmen noch als legitime Erziehungsmaßnahmen betrachtet. Das gibt es heute nicht mehr. Nicht, dass niemandem mehr die Hand ausrutscht. Aber heute betrachtet das praktisch keiner mehr als legitim, die Eltern schämen sich dafür.

Als Sie Anfang des Jahres eine Muslima mit Kopftuch und ihrer Tochter auf dem Cover druckten, wurden Sie von Rechtspopulisten bedroht. Was haben Sie daraus gelernt?

Dass wir die Gesellschaft noch realistischer zeigen müssen. Schließlich gehören Frauen mit Kopftuch längst zum Alltag in Deutschland, sie wurden nur nicht auf Magazinen abgebildet. Nach dem großen Wirbel um das Cover mit Kubra achten wir noch mehr darauf, die Gesellschaft so zu zeigen, wie sie eben ist. Bunt und authentisch. In unserer Weihnachtsausgabe dekorieren Familien ihren Christbaum, darunter wird auch eine muslimische syrische Familie sein. Und auf dem Cover unserer Jubiläumsausgabe ist ein Kind, dem man ansieht, dass nicht alle seine Vorfahren aus Deutschland stammen. Wir haben grundsätzlich nur echte Eltern mit ihren Kindern auf dem Cover. Keine Models, einfach normale und sympathische Leute. Zwei-, dreimal im Jahr auch einen Papa mit Kind.

Aber das ist ja doch nicht gerade häufig bei zwölf Ausgaben im Jahr.

Das stimmt. Wir müssen auch abwägen zwischen der Botschaft, die wir senden und an wen wir unser Heft verkaufen. Väter lesen das Heft auch – aber Mütter kaufen es.

In Ihren Texten schreiben Sie häufig "wir" und "unsere" Kinder... 

Ja, wir schreiben "wir", weil wir ein gemeinsames Gefühl und eine gemeinsame Philosophie übers Elternsein haben und verbreiten wollen. Ich finde wichtig, dass Eltern sich als Gruppe verstehen. Wir bekommen auch sehr viel Feedback von Eltern über unsere Facebook-Seite. Daher passt das "wir" auch gut.

Haben in der Redaktion alle Redakteurinnen und Redakteure eigene Kinder? 

Im Laufe der Jahre sind fast alle Eltern geworden. Es ist ja wohl auch eine bestimmte Affinität, die Menschen dazu bringt, sich bei uns zu bewerben. Kinderlos sind nur ganz junge Kolleginnen.

Ist das notwendig, wenn man über Kinder und Erziehung schreiben will?

Notwendig nicht, nein, und es ist auch nicht Voraussetzung für die Mitarbeit in der Redaktion. Aber auf manche Themen kommt man einfach nicht, wenn man kein Kind hat. Die Theorie übers Sauberwerden, zum Beispiel. Experten werden da immer sagen: Jedes Kind hat da seinen eigenen Rhythmus, man kann das einfach nicht beschleunigen. Kinderlose würden das vielleicht so glauben. Aber wer zum ersten Mal den Windelinhalt riecht, wenn das Kind begonnen hat, feste Nahrung zu essen, der weiß: Es gibt einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. "Mit Gelassenheit und Geduld", wie man das mal gelesen hat, läuft es dann eben doch nicht. Jeder versucht da irgendwas. Das sind die Geschichten, die am besten ankommen. Unsere Leser sehen: Ich bin nicht allein.

Geht das auch umgekehrt?

Ja, manchmal ist der Blick von außen auch ganz hilfreich. Manchmal erscheint einem ein Problem wahnsinnig groß und Unbeteiligte haben einen klareren Blick auf eine Sache. Etwa wie viel Wind manche um das Tragen ihres Babys machen. Es gibt spezielle Kurse - in Deutschland gibt es sogar den Beruf der Tragehelferin! Dabei ist es doch einfach nur Tragen! Eltern neigen dazu, manche Probleme überzubewerten. Das wirkt auf Menschen ohne Kinder dann doch etwas befremdlich.

stern Logo
stern Logo
Das beschäftigt Eltern heute - und früher

Wie lange begleiten Sie Eltern? Vom Kinderwunsch bis zum Kind im Teenager-Alter? 

Unser Magazin hat eigentlich eine ziemlich feste Zielgruppe: fünf Monate vor der Geburt bis zum dritten Geburtstag des Kindes. ELTERN family, unser zweite Heft, beginnt so um den zweiten Geburtstag herum und geht etwa bis zum Eintritt der Pubertät. Da diversifizieren sich die Probleme dann schon sehr.

Aber Eltern ist man im Idealfall ja bis ans Lebensende... 

Das stimmt. Aber der erste Teil der Schwangerschaft ist eher digital – Schwangerschaft ist die stärkste Rubrik auf eltern.de. Und mit Beginn der Pubertät suchen Eltern sehr gezielten Rat – online oder in Büchern.

Die Zeitschrift ELTERN erscheint wie auch der stern im Verlag Gruner + Jahr. 

PRODUKTE & TIPPS

Kaufkosmos