Anderthalb Stunden mit übermüdeten Kindern können so lang sein wie zwei Tage Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Deutsche Eltern wissen das, japanische nicht. Denn ihre Kinder schreien nie. Anderthalb Stunden dauert die Fahrt vom Flughafen ins Zentrum von Tokio. Neben Geschäftsleuten und Touristen sitzen zwei japanische Familien im Bus. Beide haben gerade die Strapaze eines 16-Stunden-Fluges von Los Angeles hinter sich. Hätte ich die Kinder nicht beim Einsteigen bemerkt, wüsste ich nicht, dass sie da sind. Die drei Jungen im Kindergartenalter lehnen sich ruhig in ihre Sitze. Friedlich liegt das Baby im Arm der Mutter.
Eine Amerikanerin aber bekommt ihre Sprösslinge nicht in den Griff. Die Dreijährige plärrt, die ältere Schwester jammert, wann man denn endlich da sei. Die Mutter schwitzt trotz der Klimaanlage. Vielleicht auch, weil sie die Verwunderung, den Ärger und die Verachtung spürt, mit der Japaner die Szene beobachten - ohne hinzugucken. Die Kinder der Amerikaner stören das "Wa", die Harmonie. Ein Sakrileg, so ungeheuer, als würde in Deutschland ein Erwachsener bei einem Empfang ständig laut rülpsen. "Wa" hält die japanische Gesellschaft zusammen, "Wa" ist das Ziel aller Erziehung.
Später frage ich Akiko, meine Übersetzerin, ob japanische Eltern den Nachwuchs womöglich mit eigens für Neugeborene entwickelten Pillen ruhig stellen oder ob Forscher ein Anti-Schrei-Gen erfunden haben. "Du hast nichts von uns verstanden", sagt Akiko und lächelt mich mitleidig an. "Wir erklären unseren Kindern einfach, dass sie andere nicht stören sollen." Leider sehen das meine Söhne Moritz, 4, und Max, 2, ganz anders, wenn ich sie im Landeanflug aus ihrem Schlummer wecke und mitten in der Nacht durch Gepäckannahme und Zollkontrolle schleppe.
In Japan aber beginnt die Erziehung zum Wohlverhalten mit der Geburt und hört nie auf. Eltern sind keine Kumpel. Respekt wird groß geschrieben. So groß, dass es für die Störung der Harmonie ein eigenes Wort gibt: Meiwaku. Ein Zappelphilipp, der am Mittagstisch nicht stillsitzt, ein Lümmel, der Bonbonpapier auf den Schulhof wirft, ein Dreißigjähriger, der nicht den Betrieb seines Vaters übernehmen will - alle begehen ein Meiwaku.
Einen grausamen Moment lang träume ich davon, meinen Söhnen Japanisch beizubringen: zuerst, was ein "Meiwaku" ist, dann, wie wunderbar "Wa" sein kann - zumindest für die Nerven von Mama und Papa.