Eine Zeit lang sah es danach aus, als würde sich die Teenagerin von ihrem tierischen Zwilling, dem Wombat, abspalten. Sie schlief weniger, sie fuhr ihre Krallen nicht mehr aus, sie kommunizierte mit uns, sie verkroch sich nur noch zu den Randzeiten in ihrer Zimmerhöhle. Wir hörten auf, sie Wombi zu nennen.
Eine neue Ära schien angebrochen zu sein, nachdem sie sogar über einen Elternwitz gelacht hatte, der so ging: Ein paar Beuteltier-Aktivisten demonstrierten vor dem Känguru-Gehege im Schönbrunner Zoo für die Aufnahme eines echten australischen Wombats. Die Botschaft lautete: Wien brauche dringend ein Wombat. Einer Zeitung, die mir beim Friseur in die Hände fiel, war die „Demo“ im Beisein der Känguruhs tatsächlich einen Artikel mit Foto wert. Ich schickte das Foto meiner Tochter und schrieb dazu: „Du könntest Dich als Leihgabe zur Verfügung stellen.“
Überraschenderweise kam nicht die nüchterne Standard-Antwort „Elternwitz“ retour, sondern das bei Teenagern verpönte Emoji, dem vor Lachen die Tränen aus den Augen fliegen. Ich starrte ungläubig auf mein Display, kontrollierte noch einmal den Absender. Ja, es war tatsächlich von ihr. Sie fand dasselbe lustig, was ich lustig fand. Es war unglaublich.
Als sie dann auch noch die Führerscheinprüfung bestand, schienen die Umbauarbeiten in ihrem jungen Körper abgeschlossen zu sein. Vor uns stand eine fertige junge Frau. Der Olaf sagte so etwas Ähnliches wie „Na, so arg war es im Rückblick eigentlich eh nicht“. In diesem Moment wäre ich fast an dem Schluck Prosecco erstickt, der vor Schreck in meinem Hals steckenblieb und sich nicht mehr vorwärts traute. Hatte mein Mann tatsächlich „eh nicht so arg“ gesagt? Er wich meinem Blick aus, ich zwang den Prosecco-Pfropfen weiterzuwandern und wünschte mir, dass die vergangenen durchaus schwierigen Jahre ebenso rasch in meiner Erinnerung verblassen würden, wie die Schmerzen bei einer Geburt.
Ich traute der plötzlichen Ruhe und Harmonie nach überstandener Pubertät nicht ganz, und ich sollte recht behalten.
Denn kaum hatte unsere Tochter den Führerschein in der Tasche, lag sie uns tagaus, tagein mit der Bitte in den Ohren, sich das Auto für lebenswichtige Fahrten ausborgen zu müssen . Eine solche stand in der letzten Schulwoche an. „Ich MUSS mit dem Auto in die Schule fahren“, erklärte sie mir mit ernstem Blick. Dass es 250 Kilometer sind, dass die Wettervorhersage Gewitter und Stürme angekündigt hatte und dass sie ein 1000-Euro teures Bahnticket für ganz Österreich ihr Eigen nennt, spielten in Anbetracht des wichtigen Frachtgutes, das nur per Auto transportiert werden konnte, keine Rolle.
Es handelte sich hierbei um zwei seltene Tomatenpflanzen, die das große Kind im Rahmen einer Lehrveranstaltung bei einem Gemüsebauern im Burgenland erworben hatte. „Diese Art ist eine sehr alte Sorte“, erzählte sie mir. „Es gibt nur noch ganz wenige davon. Die Tomaten schmecken fast so süß wie Früchte.“ Auf meine Frage, wie groß die Pflanzen seien, bekam ich keine konkrete Antwort. Dafür einen langen Monolog darüber, dass es den seltenen Süßtomaten nicht zumutbar sei, Bahn zu fahren.
Der Olaf gab ihr ohne meine Zustimmung das Okay für den Tomatentransport, und ich konnte nichts anderes tun, als mich zu ärgern und darum zu beten, dass sie heil wieder nachhause kommen würde.
Am Tag unseres Wiedersehens – Auto und Kind waren unbeschadet aus Salzburg zurückgekehrt – passierte der Rückfall. Die junge Frau wurde wieder zur Wombi. Sie bezog wieder ihren Lebensraum „Bett“ und kam wieder nur zum Essen heraus.
„Die Autofahrt war total anstrengend“, argumentierte sie. Und: „Ich muss mich erholen.“ Und: „Ich bin total verspannt vom Sitzen im Auto.“ Und: „Ich muss schlafen.“ Und: „Ich muss noch einmal schlafen.“
Wombi was back.
Als ich vor die Tür ging, entdeckte ich beim Kellerabgang zwei etwa 30 Zentimeter hohe Pflanzen, die schon mehr graubraun als grün waren. Als ich sie hochnahm, staubte es aus dem Topf heraus. Es dauerte ein bisschen, bis ich realisiert hatte, dass ich die seltenen Tomatenpflanzen in Händen hielt, derentwegen die Wombi unter widrigsten Umständen eine fünfhundert Kilometer lange Autofahrt auf sich genommen hatte.
Die Raritäten lagen in ihren letzten Zügen.
Ich düngte sie und setzte sie in einen Topf zu frischer feuchter Erde. Sie kratzten die Kurve.
Anderntags, als die Wombi ihre Höhle verlassen hatte, um sich einen Schinken-Mayo-Toast zu schmieren, erzählte ich ihr von der Rettung ihrer Tomatengewächse.
„Ach“, antworte sie und machte eine wegwerfende Handbewegung, „das wäre nicht nötig gewesen. Die muss man überhaupt nicht gießen.“
Ich werde heute noch im Schönbrunner Tiergarten anrufen, um eine Übersiedlung der Wombi in das Känguru-Gehege zu veranlassen. Die Wombat-Aktivisten werden begeistert sein, wenn sie der Wombi ansichtig werden. Vielleicht kann ihr der Zoo eine Glashöhle bauen, durch die man sie beim Schlafen beobachten kann. Ich verspreche, ich werde ihr ab und zu eine süße seltene Tomate vorbeibringen.