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C. Tauzher: Die Pubertäterin Chaosferien, Teil 2: Wie es nach der Ohnmacht vor der Wursttheke weiterging

Ohnmächtige Frau
Vor der Wursttheke hatte es die Teenagerin hingerafft
© andriano_cz / Getty Images
Am Ende des ersten Teils der Geschichte von Christiane Tauzhers Chaosferien war die Teenagerin vor einer Wursttheke zusammengeklappt. Ihre Familie rast zum Supermarkt. Wie geht es ihr, wie geht es weiter mit diesem verfluchten Urlaub?

Die Nachricht, dass unsere Tochter im Supermarkt auf Capri zusammengeklappt war (was bisher geschah, lesen Sie in Teil eins dieser Geschichte), der Schlafmangel und die Überspanntheit meiner Nerven, ließen meine Fantasie davongaloppieren. Ich hatte auf einmal eine Ahnung davon, wie Stephen King sich fühlen muss, wenn das Grässliche seine Gedanken in Besitz nimmt, bevor er sie zu Papier bringt. Ich schwöre, ich war für einen Moment, oder mehrere Momente, genau kann ich es nicht sagen, im Kopf von Stephen King:

Das geliebte Kind in seinem blauweiß getupften Lieblingskleid, ausgestreckt auf dem kalten Fliesenboden des Supermarkts liegend. Einen Arm dramatisch über die Augen gelegt. Kaltes zuckendes Neonlicht aus einer kaputten Röhre. Leises Stöhnen. Den linken Fuß merkwürdig verdreht.  Über dem Kind die gläserne Wurst-Vitrine mit Prosciutto-Schinken und Mortadella-Wurst, die wie zwei riesige Augen auf sie herabstarren. Ein gigantisches Monster, das ... die Vitrine zerbirst, die Kreatur steigt heraus und ...

„Hallo? Christiane? Endstation! Alle aussteigen!“ Der Olaf rüttelte mich an der Schulter. Ich zuckte zusammen.

Wir hasteten über die Piazza und liefen in Richtung Supermarkt. Zum Glück waren wir schon öfters auf Capri gewesen und kannten den Weg. Der Kleinste, dessen Knie den Ärzten in Neapel vor zwei Tagen noch Rätsel aufgegeben hatte, schien auf wundersame Weise geheilt zu sein.  Er sprang wie ein junges Zicklein vor uns über die Pflastersteine. „Schonung“ hatte der Arzt beim Abschied aus dem Spital gesagt. Ha! Ha! Ha!

Endlich, der Supermarkt. Wir traten keuchend über die Schwelle. Und da lag sie, wie die Kameliendame kurz vor ihrem letzten Atemzug. Sogar das Kleid stimmte. Die Schinken- und Wurst-Augen, die Vitrine. Nur, dass die Verunglückte anders als in meiner Vision nicht alleine war, sondern mindestens acht besorgte Italiener und Italienerinnen um sie herumstanden beziehungsweise kauerten, um dem blonden großen Mädchen „dall’ Austria“ beizustehen. Der Besitzer des Ladens hatte ihr Essig unter die Nase gehalten, um sie ins Leben zurückzuholen. Als sie uns sah, versuchte sie sich mit letzter Kraft aufzurichten, sackte aber wieder zusammen und sogleich boten sich zwei junge Männer als Krücken an. Sie ließ sich dankbar hochhieven. Wir umarmten sie sanft, ich behielt Wurst und Schinken zur Sicherheit im Augenwinkel.

„Das wäre alles nicht passiert, wenn ...“

„Hier“, sagte sie mit Todesverachtung in der Stimme und löste sich aus meiner Umarmung, „hier sind die Einkäufe, die du bestellt hast.“ Sie zeigte auf einen großen Sack, der am Boden neben ihr stand. „Das wäre alles nicht passiert, hättest du mich nicht gezwungen, einkaufen zu gehen.“ Ich war zu müde, um ausführlich zu antworten. „Ja“, sagte ich. „Nein“, hätte auch gepasst.

„Kannst du auftreten?“, fragte der Olaf. Die Kameliendame verneinte und verzog das Gesicht. Sofort sprangen die beiden Italiener wieder an ihre Seite. „Danke“, sagte der Olaf, „wir schaffen das jetzt alleine.“ Die Teenagerin verzog noch einmal das Gesicht, diesmal vor Bedauern, weil sich die beiden Krücken (endlich) vom Acker machten. „Ci vediamo dopo“ ("Wir sehen uns später"), riefen sie. „Si, certo“ ("Ja, sicherlich"), flötete unsere Tochter.

Wir schleppten sie zu unserem Quartier, wo sie ermattet auf ein Lager sank, aber noch die Kraft aufbrachte, ihr Handy an den Strom zu hängen.

Als nächstes schlugen wir vor, einen Arzt zu rufen. „Nein, das ist nicht nötig“, stöhnte die Patientin. Die Vorschläge das Bein kalt zu stellen, einen Kompressionsstrumpf anzuziehen, Voltadol einzumassieren und das Bein hochzulagern, wurden von ihr abgelehnt.

„Wie konnte das überhaupt passieren“, fragte der Olaf.

Schulterzucken.

„Hast du vielleicht zu wenig getrunken?“

Seufzen.

„Bist du in letzter Zeit schon einmal umgefallen?“

Kopfschütteln.

„Michele (Anmerkung: Der Besitzer des Supermarktes, mit dem die Teenagerin jetzt best friend ist) hat gemeint, dass das einfach alles zu viel für mich gewesen ist. Mein Körper ist wegen der psychischen Belastung zusammengebrochen.“

Ach, dieser Michele ist wirklich putzig. Zusammenbruch aus Sorge um Bruder und Mutter, die zwei Tage in einem neapoletanischen Krankenhaus eingesperrt waren? Wenn ich meiner Tochter alles zutraue, aber dieses mitfühlende Herz bei Gott nicht.

„Ich glaube einfach, du hast zu wenig getrunken“, sagte ich.

„Ich trinke, wenn ich Durst habe“, bekam ich zur Antwort, „und ich hatte keinen Durst.“

(Anmerkung: Trinkwasser muss man in Italien in Flaschen kaufen. Es kommt nicht aus der Leitung. Man hätte also eine Flasche KAUFEN müssen. Man hätte sie nach Hause TRAGEN müssen. Mit seinen eigenen Armen.)

„Diese ganze Situation war allgemein anstrengend für mich“, sagte sie jetzt.

Ich wollte einfach nur noch etwas essen. Der Rest war mir egal. Erstaunlicherweise konnte sich die Kameliendame mit letzter Kraft aufrappeln und mit uns zur Pizzeria humpeln. Es sollte das letzte Mal sein für die nächsten drei Tage, dass sie öffentlichen Boden betrat.

Von nun an verließ sie das Haus bis zu unserer Abreise nicht mehr. Sie lag im Bett oder auf einer Gartenliege, ließ sich mit Essen von uns beliefern und war den Rest der Zeit unsichtbar oder schlecht gelaunt.

Was in ihrem Zustand gar nicht ging, war: Abwaschen, die Handtücher aufhängen, das Bett machen.

Was gut ging, war: Handy schauen, Netflix schauen, Haare waschen/fönen und zeichnen.

Das Bild, das sie in der Isolation mit den Filzstiften des Bruders zeichnete, fällt in die Kategorie „sehr naive Kunst.“

Christiane Tauzher: Die Pubertäterin

Seit die Pubertät unsere Tochter, die Wombi, kurz nach ihrem 13. Geburtstag in ihre Gewalt bekommen hat, halten wir die Fenster geschlossen, damit die Nachbarn nicht die Polizei rufen. Die Pubertäterin ist laut und unberechenbar, wenn sie nicht gerade wie ein Wombat schläft oder isst – was sie zum Glück oft tut.

Die Geschichten, die ich – Journalistin, 41, aus Wien, verheiratet mit Olaf, 46 – hier erzähle, handeln natürlich nicht von der Pubertäterin in meiner Familie. Nein. Sie entspringen meiner blühenden Fantasie oder stammen aus anderen Familien. Dort geht es nämlich arg zu – in den anderen Familien ...

Am Tag unserer Abreise wollte ich das Bild mit der alten Zeitung entsorgen.

„Eh klar, dass du es nicht aufhängen wirst. Hauptsache, du hast mit Benedikts Bildern die Küche bei uns zuhause tapeziert.“ (Anmerkung: Benedikt, der kleine Bruder, ist sieben Jahre alt.)

„Schau“, sagte ich, „du kannst das Bild deiner Großmutter schenken. Die freut sich bestimmt.“ Nein, ich gestehe, ich wollte das Bild NICHT haben, es würde mich an diesen Urlaub erinnern, den ich gerne vergessen würde.

Apropos: Kaum waren wir in Wien angekommen, hatte der Knöchel unserer Tochter vergessen, dass er schwer verletzt war.

Nach drei Tagen „Eingesperrtsein“ (im Paradies) musste sie „jetzt dringend raus und unter Leute.“ Leichtfüßig.

Hilfe! Stephen, wie komme ich wieder raus aus deinem Kopf?

P.S.: Die Großmutter hat das Bild auch nicht aufgehängt.

Begründung für die Enkeltochter: „Bei dem Bild hast du Benedikt zu viel geholfen. Ich habe lieber Bilder, die er alleine gemalt hat.“

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