Was machen ein Deutscher vom Bodensee und ein Japaner in Beijing? Wenn sie nicht gerade arbeiten, dann beobachten, dokumentieren und fotografieren sie den atemberaubenden "Hochgeschwindigkeitsurbanismus" in Chinas Hauptstadt. Die alte Kaiserstadt zwischen Tradition und Moderne ist eine prosperierende 14-Millionen-Einwohner-Metropole auf 16.800 Quadratkilometern. Eine Mega-City, in der nichts vergänglicher ist als das Heute.
Die Architekten André Schmidt, 34, und Hiromasa Shirai, 35, leben seit 2004 in Beijing. Seitdem registrieren die beiden Männer die rasanten städtebaulichen Entwicklungen in der chinesischen Kapitale. Mit geschärftem Blick auf die historischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse analysieren die fachkundigen Baumeister die Probleme und unvorstellbaren Chancen der Stadt.
Jahrhundertealte Stadtviertel werden für Hightech-Bauten platt gewalzt
Die Ergebnisse dieser Arbeit haben sie jetzt in einem kleinen, handlichen Fotobuch zusammengefasst, das in sehr anschaulicher Weise das "chinesische Bauwunder" in vielen beeindruckenden Alltagssequenzen festhält. "Big Bang Beijing" ist im japanischen Verlagshaus Kajima Institute of Publishing erschienen. Praktisch und unkompliziert zu nutzen. Das Buch lebt allein von seinen Bildern, die auf über 300 Seiten ausgebreitet werden. Die Begleittexte in Englisch und Japanisch sind eher schmückendes Beiwerk. Sowohl Architekturliebhaber als auch Kulturinteressierte dürften von diesem kompakten Büchlein begeistert sein.
Die beiden Autoren sind keine professionellen Fotografen, sondern geben eher einen sehr persönlichen Einblick in die Stadtentwicklung Pekings: Abbruch, Umbruch, Baustellen. Heute noch Brachland, und morgen schon Plattenbau. Was passiert mit der alten Kaiserstadt? Jahrhundertealte Stadtviertel werden platt gewalzt für hochmoderne Hightech-Bauten, deren Nutzen und Nachhaltigkeit mehr als fragwürdig erscheint.
Bis zur Olympiade soll alles glitzern und blinken
Seit der ökonomischen Öffnung Chinas in den siebziger Jahren vollzieht sich ein atemberaubender Wandel in Chinas Städten, angeführt von der Hauptstadt, in der seit Jahren alles stetig auf Hochtouren läuft. In einer Geschwindigkeit, die schwindelerregend ist, vielfach auch angsteinflößend und beunruhigend. Am 8. August 2008 werden in Beijing die Olympischen Sommerspiele eröffnet. Bis dahin soll alles glitzern, blinken und strahlen. Häuser, Stadien, Parkanlagen. Alles muss fertig sein. Stehen. Egal wie. Egal um welchen Preis. Doch die hier lebenden Menschen sind stolz auf das Erreichte.
André Schmidt kann das nur bestätigen: "Beijing wird von einem einzigartigen Bauboom dominiert. Der beschränkt sich nicht nur auf Bauten, die für die Olympiade im engeren als auch entfernteren Sinne nötig sind, sondern zielt hauptsächlich auf den Wohnungsbau. Werden da vor allem Potemkinsche Dörfer gebaut, wie es viele Außenstehende vermuten? Viel Fassade und nichts dahinter? Oder ist dieser fast unwirklich anmutende Stadtwandel einfach nur nicht mit unserem europäischen Denken von Aufbau zu vereinbaren, weil diese Geschwindigkeit Ausmaße angenommen hat, die wenig mit unserem Blick auf China zu tun haben? Dieser Modernisierungsprozess ist mit nichts mehr vergleichbar. Die "Industrielle Revolution", wie sie Europa hinter sich hat, erscheint dagegen geradezu lächerlich. In Peking leben derzeit rund 14 Millionen Menschen - viermal mehr als in Berlin. Tendenz steigend, und zwar unaufhaltsam. Die Landbevölkerung zieht es in die Stadt, in der Hoffnung auf Arbeit und Lohn.
"Big Bang Beijing"
André Schmidt, Hiromasa Shirai: "Big Bang Beijing", 304 Seiten, Format 19 x 12,8 cm, Verlag: Kajima Institute of Publishing, Japan. In Deutschland erhältlich über die Buchhandlung "pro-qm", Almstadtstraße 48-50, 10119 Berlin, Telefon: 030/2472852-0, Fax: 030/2472852-1, info@pro-qm.de, Preis: 33 Euro + Versandkosten
Doch André Schmidt sieht wenig Anlass für Sorge und Skepsis: "Die Menschen hier sind dankbar und freuen sich über die Entwicklungen in ihrer Stadt. Es ist nicht so, dass die Bevölkerung die Augen vor den Problemen verschließt. Nein. Aber jeder möchte eben so schnell wie möglich persönlich vom Wandel profitieren." Das Misstrauen gegenüber Maos Erben und den politischen Entwicklungen ist - historisch bedingt - groß. Wer weiß, ob die großzügige politische Öffnung auch die nächsten Jahre bestehen bleibt?
Ein ästhetischer Alptraum
Doch was passiert architektonisch in Beijing? 1154 wurde die Kommune als Kaiserstadt gegründet und als physische Nachbildung des Universums gebaut. Über 800 Jahre hat sich kaum etwas am Stadtbild verändert. Und jetzt? Was oder wer bleibt auf der Strecke? Das Stadtbild verändert sich täglich. Die alte Bautypologie verschwindet durch Abriss und wird ersetzt durch standardisierte postmoderne Fassadenarchitektur, die teilweise mit altchinesischen Versatzstücken versehen ist. Für diejenigen, die gehofft haben, dass historische Gassen und Hofhausquartiere (Hutongs) liebevoll saniert würden, muss die Stadtentwicklung Beijings ein ästhetischer Alptraum sein. Zudem sind die gesellschaftlichen und ökonomischen Modernisierungsprozesse einschneidend und gravierend. Aber nicht mehr aufzuhalten. Die Architekten Schmidt und Shirai sehen aber auch, dass die Chinesen mit ihrem historischen Erbe sehr bewusst und verantwortungsvoll umgehen: "Chinas imperiale Vergangenheit, religiöse Tradition sowie die vielen Minoritäten werden heute nicht als Übel, sondern deutlich als Reichtum begriffen und auch so beworben."
In Chinas Hauptstadt wird rund um die Uhr gebaut. Es gibt keinen Stillstand. André Schmidt zu stern.de: "Die Menschen haben eine extrem hohe Leidensfähigkeit und sind bereit, sich auf die Herausforderungen der Zukunft einzulassen. Trotz aller Härte: Sie werden kaum jemandem auf der Straße begegnen, der ein unglückliches oder auch nur unzufriedenes Gesicht macht. Die von westlichen Medien aufgezeigten Schwierigkeiten sind in ihrer Dimension recht einseitig. Aus der Ferne sieht möglicherweise alles viel beängstigender aus als vor Ort."
Peking repräsentiert ein neues, zukunftsweisendes China
Internationale Fachleute diagnostizieren einen historisch beispiellosen Prozess, der nur noch in Superlativen zu fassen ist. Als Hauptstadt hat Beijing Symbolcharakter und repräsentiert über die Stadtgrenzen hinweg, ein neues, zukunftsweisendes China. Doch wie sind diese massiven städtebaulichen Veränderungen in Peking mit den vorhandenen Lebensbedingungen zu vereinbaren? Wird der Mensch im Beijing von morgen eine neue kulturelle Identität finden?
André Schmidt ist überzeugt davon, dass die dort lebenden Menschen ihre Wurzeln nicht vergessen: "Mit Sicherheit nicht. Genauso wie auch der Sozialismus mit chinesischen Charakteristika umgesetzt wurde und noch wird, wird China seine eigenen Wurzeln in der modernen urbanen Welt nicht vergessen." Er schränkt aber ein: "Zur Zeit jedoch werden westliche Muster noch sehr stark kopiert."
Obwohl die beiden Architekten André Schmidt und Hiromasa Shirai einen sehr persönlichen Blick auf ihre "neue" Heimat haben, tragen auch sie mit ihrer beruflichen Tätigkeit vor Ort dazu bei, dass sich das Stadtbild Pekings weiterhin von Grund auf verändert. Im Auftrag des Rotterdamer OMA (Office for Metropolitan Architecture) von Stararchitekt Rem Kohlhaas arbeiten sie an dem umstrittenen Wolkenkratzer TCVV. Das Bauwerk, das künftig zum Headquarter des chinesischen Staatsfernsehens China Central Television (CCTV) gehört, zählt zu den kühnsten und gewagtesten Konstruktionen der Gegenwart.
Buchprojekt wird zum Geschichtsbuch
Die Autoren wissen angesichts des rasanten Fortschritts in Beijing sehr wohl um die Problematik ihrer fotografischen Dokumentation: "Unser Buchprojekt, das sich über die letzten drei Jahre entwickelt hat, muss heute schon fast als Geschichtsbuch angesehen werden. Viele der abgebildeten Stadtszenen sind so gar nicht mehr anzutreffen. Große Plakatwände mit Bauankündigungen sind Vergangenheit, da stehen schon längst riesige Bürohäuser oder Mietskasernen."