Das Leben ist manchmal süß und manchmal bitter. Der Film, den Julie Mennella mir vorführt, ist ein eindeutiger Beweis dafür. Ein Baby in einem Hochstuhl wird gefüttert. Kaum ist der Löffel im Mund der Kleinen verschwunden, hellt sich ihr Gesicht begeistert auf. Auf dem Löffel war etwas Süßes. Dann zeigt Mennella eine andere Szene: Ein kleiner Junge macht Bekanntschaft mit Brokkoli. Grünes Gemüse, leicht bitter. Das Baby schneidet Grimassen, würgt und schüttelt sich. Derlei kulinarische Vorlieben sind für Eltern oft nervenaufreibend. Aber evolutionsbiologisch gesehen sind sie wichtig: Ob süß oder bitter, es geht in beiden Fällen ums Überleben. Nahrung oder Gift? Der Geschmackssinn der Wirbeltiere hat sich vor allem entwickelt, um diese Frage zu klären. Auf der menschlichen Zunge gibt es darum nur ein oder zwei Rezeptortypen für süß – aber etwa 25 für bitter. Ein Indiz dafür, wie wichtig es für unsere Ahnen war, Gift schnell zu erkennen.
Das moderne Lebensmittelangebot ist eine Quelle vielfältiger Genüsse – und gerade das Erbe unserer Vorfahren führt dazu, dass wir es nicht unbedingt zum Besten unseres Körpers nutzen. Weil früher der Mangel die Regel war, ist in uns noch immer der Trieb angelegt, so viel wie möglich zu uns zu nehmen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Essen ist zu einer unserer Hauptbeschäftigungen geworden. Darum boomt auch die Erforschung unseres Geschmackssinnes. Die Materie allerdings ist sehr kompliziert. Forscher können noch lange nicht sagen, wie unser Sinnesapparat das berühmte "Geschmackserlebnis" erzeugt.
Die Wissenschaft vom Schmecken
Über die Zahl der Geschmacksrichtungen streiten die Gelehrten seit Jahrtausenden. Heute haben sich die meisten Fachleute auf fünf fundamentale Geschmacksempfindungen geeinigt: neben Süß, Salzig, Sauer und Bitter gibt es noch Umami. Das ist der herzhafte Geschmack, der durch Sojasauce hervorgerufen wird. Eine Hirnregion, die als Geschmacksrinde bezeichnet wird, enthält vermutlich unterschiedliche spezialisierte Gruppen von Nervenzellen, die jeweils auf bestimmte Geschmacksrichtungen reagieren. Dorthin gelangen die Signale von der Zunge. Und dort tragen sie zu diesem komplexen Erlebnis bei, das wir "Schmecken" nennen. Beim Kauen, Schlucken und Ausatmen, erklärt Linda Bartoshuk, Geschmacksforscherin an der Universität Florida, "werden flüchtige Moleküle aus der Nahrung hinter den Gaumen hoch in die Nasenhöhle gedrückt". In der Nase binden sie an Geruchsrezeptoren. Vor allem diese Rezeptoren erzeugen unsere Aromenwahrnehmung. Die unterscheidet sich vom gewöhnlichen Riechen: Das Gehirn differenziert zwischen Düften, die wir durch die Nasenöffnungen schnuppern (orthonasale Olfaktion) und solchen, die unsere Nasenhöhle beim Essen von hinten erreichen (retronasale Olfaktion). Das Gehirn kombiniert dann retronasale Olfaktion und Geschmack und erzeugt das, was wir Aroma nennen.
Heutige Ernährung entspricht nicht unserer Vergangenheit
Bei manchen ist der menschliche Gaumen besonders gut ausgeprägt. Linda Bartoshuk nennt sie die "Superschmecker": Menschen, die so viele dicht stehende Geschmacksknospen besitzen, dass sie die Basisgeschmäcke ungewöhnlich intensiv wahrnehmen. Doch egal wie gut der Geschmackssinn ausgeprägt ist, er bewahrt den Menschen nicht vor den Versuchungen der modernen Welt. Das Problem: "Unsere heutige Ernährung entspricht nicht der unserer evolutionären Vergangenheit", sagt Julie Mennella. Die Lebensmittelindustrie muss sich zwar den Vorwurf gefallen lassen, dass sie ihre Produkte mit Zutaten wie Fett und Zucker anreichert, nach denen unser Körper aufgrund unserer Evolution giert. Doch wenn sie gesündere Produkte anbietet, honorieren wir das nicht immer. Sehr schwierig ist es, den Salzgehalt industriell hergestellter Lebensmittel zu verringern. Gibt man Leuten zwei Schalen mit Suppe, die mit Ausnahme des Salzgehalts genau gleich sind, bevorzugen sie in der Regel die salzige Variante. Zucker ist auch eine Herausforderung, weil er Kinder auf eine Weise anspricht, die nicht unbedingt mit dem Geschmack zu tun hat. "Süßes mildert bei Kindern Schmerzgefühle", sagt Mennella. Für Eltern ist das verführerisch: Womit sonst könnten sie die Stimmung ihres nervenden Nachwuchses so schnell verbessern? Auf Dauer besteht allerdings die Gefahr, Karies, Fettleibigkeit und Diabetes schon bei den Kleinsten zu fördern.
Es gibt aber auch gute Nachrichten. Unsere angeborenen Vorlieben sind nicht unveränderlich. Menschen, denen es gelungen ist, weniger salzig zu essen, merken, dass sie stark gesalzene Lebensmittel schlechter vertragen. Auch der natürliche Widerwille gegen Brokkoli und andere gesunde, aber bittere Lebensmittel lässt sich überwinden. Was Babys später mögen, wird schon dadurch geprägt, was die Mutter während der Schwangerschaft isst. "Babys können lernen, Lebensmittel zu mögen", sagt Julie Mennella. Ihr Rat an Eltern lautet: Seid ein Vorbild und gebt nicht auf. Den kleinen Jungen in ihrem Brokkoli-Experiment schüttelt es beim zweiten Löffel zwar immer noch. Aber diesmal sperrt er willig den Mund auf.