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"Deutschland schafft sich ab" Frau Akyün, lohnt sich Sarrazins Buch?

Alle reden drüber, kaum jemand hat es gelesen. Die Autorin Hatice Akyün schon. stern.de verrät sie, ob sich die Lektüre von Thilo Sarrazins umstrittenem Bestseller lohnt.

Frau Akyün, würden Sie den Lesern dieses Interviews empfehlen, sich mit der Person Sarrazin und seinem Buch zu beschäftigen?
Nun, ich habe mich intensiv mit ihm beschäftigt. Vergangenen Freitag in einem mehrstündigen Gespräch und natürlich habe ich auch sein Buch gelesen. Vor dem Gespräch war ich sehr angespannt, weil ich nach allem, was ich von ihm gelesen und gehört hatte, einen knallharten Aufklärer a la Roland Schill oder Jörg Haider erwartet habe. Ein Visionär, der Verve hat, unschöne Wahrheiten auszusprechen. Bis zu meinem Treffen mit ihm gab es nur schriftliche Interviews. Mir hat das gedruckte Wort von ihm ein wenig Ehrfurcht eingeflößt. Am Ende saß ich vor einem zahnlosen Tiger oder, wie es der Amerikaner sagen würde, vor einer "lame duck". Ich habe ihn erlebt, so wie er auch bei "Beckmann" und "Hart aber fair" war. Nervös und nicht in der Lage, seine Thesen zu belegen. Dass er in dem Streitgespräch, das ich mit ihm geführt habe, so gut aussah, lag auch daran, dass er bei der Autorisierung seine Antworten verschärft hat.

Aber würden Sie das Buch selbst nun zur Lektüre empfehlen?
Ich denke, dass jeder selbst entscheiden muss, ob er das Buch lesen möchte. Ich habe es aus beruflichen Gründen getan, ohne Notwendigkeit hätte ich es bestimmt nicht gelesen. Dafür finde ich ihn als Person, der sich als Retter der Deutschen gibt, sehr schwach.

Gibt es Punkte in Sarrazins Buch, wo Sie ihm Recht geben?
Schauen Sie, so kann man dieses Thema nicht angehen. Wenn sich jemand respektlos, beleidigend, verachtend und entwürdigend über Menschen äußert, kann ich nicht in diesem ganzen dreckigen Wortsumpf nach dem klaren Tropfen Wasser suchen. Das funktioniert so nicht.

Thilo Sarrazin sieht sich aber in der Rolle als neutraler Aufklärer.
Ich glaube, Herr Sarrazin hatte nie vor, Probleme, Missstände, Defizite wahrhaftig anzusprechen und Visionen zu entwickeln, wie man die vorhandenen Probleme lösen könnte. Dann hätte er ganz bestimmt nicht dieses Vokabular gewählt. Nehmen Sie zum Beispiel eine Mutter. Sie gibt ihrem Kind doch auch nicht zuerst eine Ohrfeige und nimmt es anschließend tröstend in die Arme. Oder nehmen Sie einen Sozialarbeiter in einem Jugendzentrum. Der sagt einem missratenen Türkenjungen doch auch nicht zuerst, du Blödmann, aus dir wird eh nichts, aber ich helfe dir trotzdem. Herr Sarrazin besitzt keine Empathie, kein Einfühlungsvermögen. Deshalb verkriecht er sich auch immer hinter seinen Zahlengebilden.

Nervt es Sie, wenn man Ihre gelungene Integration als "positiven Einzelfall" bezeichnet?
Ich hasse es. So wie ich es hasse, dass man mir unverblümt sagt: Super, Frau Akyün, wenn alle Türken wie Sie wären, hätten wir in Deutschland keine Probleme mehr. Wie bitte? Ich bin froh, dass nicht alle Türken so sind wie ich. Dann hätte Deutschland wirklich ein Problem. Das ist doch der Versuch, Menschen gleichzuschalten. Aber Menschen haben nun mal verschiedene Vorlieben, leben unterschiedlich und kleiden sich anders. Und das nennt man auch das Recht auf persönliche Entfaltung. Außerdem bin ich kein Einzelfall. Ich war mit meinen beiden Büchern auf über 300 Lesungen, von Osten bis Westen und von Norden bis Süden, ich habe dieses Land landauf, landab bereist, es waren bei den Lesungen zwischen 50 und 500 Zuhörer dabei. Unter ihnen Hunderte Türkischsstämmige. Wenn das alles Einzelfälle sind, dann würde ich gerne wissen, was dann die Mehrheit sein soll.

Ist Sarrazin für Sie ein Rassist?
Es ist egal, ob er einer ist oder nicht. Welche Rolle spielt das jetzt noch? Er hat mit seinem Geltungsdrang, seiner Gier nach Aufmerksamkeit, die Arbeit von so vielen Menschen zerstört. Mir tun die ehrenamtlichen Helfer, Sozialarbeiter, Lehrer leid, die tatsächlich jeden Tag Integrationsarbeit leisten. Die müssen jetzt dank Herrn Sarrazin wieder bei Null anfangen.

Machen Leute wie Henryk Broder einen Denkfehler, wenn sie sich offenbar ganz reell vor einem Dschihad vor der eigenen Haustür fürchten?
Ich frage mich manchmal, wo Broder, Kelek und Konsorten eigentlich ihre Feldforschung betreiben. Mit denen spricht doch keiner mehr. Die Nichtintegrierten und Problemfälle nicht und die moderaten Muslime auch nicht mehr. Wenn in der türkischen Community der Name Kelek fällt, rümpfen alle angewidert die Nase. Die können das Geschwafel nicht mehr ertragen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Zur Zeit arbeite ich an einem Filmstoff, für den ich fast jeden Tag in Kreuzberg recherchiere. Ich treffe mich mit Türken, die dort geboren sind, seit 40 Jahren dort leben und dort verwurzelt sind. Menschen, aus den unterschiedlichsten Schichten. Gebildete, HartzIV-Empfänger, Gemüsehändler, Ehefrauen, Jugendliche. Und seit Wochen suche ich verzweifelt nach den Familien, die sich nicht integrieren wollen. Ich finde sie einfach nicht.

Sie wollen sagen, dass der mangelnde Integrationswille nur eine Erfindung bestimmter Politiker und Publizisten ist?
Nein, das ist es nicht. Es gibt diese Familien, das bestreitet niemand. Aber die Mehrheit der türkischstämmigen Migranten ist gut integriert. Diese Tatsache wird gern verschwiegen. Es wird gerade so getan, als ob Herr Sarrazin das Rad neu erfunden hätte. Aber er beschreibt nichts Neues. Vor ihm haben schon andere "seriöse" Politiker die Probleme auf den Tisch gebracht. Aber eben nicht mit einem verachtenden Vokabular. Viele der Migranten ersten Generation sprechen ein miserables Deutsch. Und dann sage ich mir: Na, und! Wen interessiert das? Diese Menschen sind 70 Jahre alt, haben die meiste Zeit ihres Leben für dieses Land gearbeitet, dafür gesorgt, dass ihre Kinder und auch die Kinder der Deutschen hier gut leben können, lasst ihnen doch ihren Frieden. Sollen Sie doch von mir aus stundenlang im Teehaus sitzen und in die Moschee gehen. Ich habe noch nie erlebt, dass man sich über die Deutschen Rentner aufgeregt hat, die stundenlang am geöffneten Fenster es sich mit einem Kissen gemütlich machen und Leute auf der Straße beobachten.

Halten Sie Sarrazins Buch vergleichbar mit Roland Kochs Wahlkampf 1999 und Jürgen Rüttgers "Kinder statt Inder"-Kampagne?
Nein, überhaupt nicht. Koch und Rüttgers haben damit Wahlkampf betrieben. Sarrazin hat seine politische Laufbahn hinter sich. Und ich denke auch nicht, dass er eine neue Partei gründen wird. Dafür fehlt ihm der Schneid eines Roland Koch.

Während der WM in Südafrika schien Deutschland endlich mit sich und der Lebensrealität des Jahres 2010 im Reinen. Außerhalb von NPD-Kreisen schien es keinem negativ aufzufallen, dass die Stars Özil, Podolski und Khedira heißen und nicht Meier, Schmidt und Schulz. Befürchten Sie nun einen Rückschritt?
Ich hoffe wieder auf die EM 2012. Bis dahin haben wir uns hoffentlich alle wieder lieb. Seit ich mich erinnern kann, geht die Stimmung in Deutschland auf und ab. Erst war das Boot voll, dann entdeckte man die Türkei als Urlaubsland, später brannten Häuser von Türken und nun haben wir einen kleinen, flinken Jungen mit dem Namen Özil, der plötzlich Deutscher ist, weil er für Deutschland Tore schießt. Drei Schritte vor, zwei Schritte zurück eben. Die Ängste der Deutschen vor dem Fremden ist immer eine starke Prägung gewesen. Aber Angst ist ein schlechter Ratgeber. Das, was man fürchtet, hat selbst keine Kraft. Die Angst davor ist die treibende Kraft.

Wenn Sie Statistiken sehen à la "70 Prozent der Deutschen finden Sarrazin mutig", denken Sie dann eventuell das "Schland" nur eine Illusion ist?
Was soll denn bitte daran mutig sein? Ich haue ein Buch heraus, in dem es vor Halbwahrheiten und Falschinterpretationen nur so wimmelt, beleidige bestimmte Migrantengruppen, werfe es den Menschen vor die Füße und ruhe mich dann auf dem Recht der Meinungsfreiheit aus? Nein, das ist nicht mutig. Mutig ist, was Kirsten Heisig, die verstorbene Jugendstrafrichterin, gemacht hat. Sie hat die Probleme erkannt, sie analysiert und Lösungen entwickelt.

Glauben Sie, dass ein Mesut Özil für viele Problemfälle der sogenannten 3. Generation ein Hoffnungsträger und Motivator sein kann?
Aber natürlich. Ich bekomme es doch gerade in Kreuzberg mit, wie diese kleinen Jungs jetzt alle in die Tigerkäfige rennen und wie verrückt trainieren. Aber es muss kein Özil oder Özdemir sein, es reicht auch, wenn der Cousin oder die Cousine erfolgreich ist. Das motiviert auch. Role Models nennt man das im Amerikanischen. Es gibt viele Vorbilder in Deutschland, nur werden die zu selten in den Medien beachtet. Ist irgendwie auch verständlich. So ein prügelnder Türke ist immer besser zu verkaufen als die türkische Friseurin, die mit einem Hauptschulabschluss gerade ihren dritten Laden aufmacht.

Was lief in Ihrer Familie richtig, was in manchen Familien offenbar falsch läuft?
Menschen sind unterschiedlich. Mein Vater hat früh begriffen, dass sein Aufenthalt in Deutschland für seine Kinder von Vorteil ist. Er selbst hat nie eine Schule besucht, weil es in dem anatolischen Dorf, in dem er aufgewachsen ist, keine Schule gab. Aber er wusste, dass wir diese Chance nun hatten. Ich war nicht im Kindergarten, aber ich erinnere mich sehr gut, dass mein Vater zu seinen Kindern sagte: "Los, geht raus, geht auf den Spielplatz, spielt mit deutschen Kindern, lernt die Sprache." Es gibt die unterschiedlichsten Gründe, warum sich Menschen der Bildung verweigern. Das gibt es doch auch in deutschen Familien. Aber trotzdem darf man sie nicht aufgeben. Ich bin für eine Kindergartenpflicht in Deutschland. Mein Menschenverstand sagt mir, dass man zumindest so die Sprachprobleme der Migrantenkinder in den Griff bekäme. Weg von dem türkischen Fernsehen, raus aus den Familien, in denen nur Türkisch gesprochen wird und rein in die Kitas. Im Jahre 2010 dürfte es kein einziges Kind mehr geben, das bei der Einschulung die deutsche Sprache nicht beherrscht.

Können Sie die Ängste gerade älterer Deutsche vor der Islamisierung verstehen?
Aber natürlich. Die sehen diese schrecklichen Bilder vom 11. September, die Terroranschläge im Irak und in Afghanistan, die bärtig-grimmigen Männer, die an ihrer Haustür vorbeilaufen, um in die Moschee zu gehen. Aber genau das ist das Problem. Sie sehen sie nur, sie sprechen aber nicht mit ihnen. Ich kenne deutsche Familien in meiner Heimatstadt Duisburg, die nach der Eröffnung der Moschee in Marxloh dort hingegangen sind, die sich erkundigt und sich alles angeschaut haben. Jetzt sagen sie, dass sich all ihre Vorurteile nicht bestätigt hätten.

Eine Veranstaltung mit Ihnen wurde von Mitgliedern der anti-islamischen Pro-Köln-Bewegung gestört. Wie gehen Sie mit solchen Leuten um - ignorieren oder konfrontieren?
Ich nehme mir immer vor, sie zu ignorieren, wie ich eigentlich auch Sarrazin ignorieren wollte. Aber dann platzt es aus mir heraus. Weil ich in der Öffentlichkeit stehe, habe ich die Möglichkeit, meinen Mund aufzumachen und mich zu wehren. Über die Türken in Kreuzberg, Neukölln oder Marxloh wird nur gesprochen, aber niemand spricht mit ihnen. Und sie bekommen nicht die Möglichkeit, ihre Sicht der Dinge zu erzählen. Was eigentlich schade ist, denn sie haben die viel schöneren Geschichten zu erzählen.

Hatice Akyün

Andre Rival Die Journalistin und Buchautorin wurde 1969 in Akpinar Köyü (Zentralanatolien/Türkei) geboren und kam 1972 mit ihrer Familie nach Deutschland. Sie schreibt unter anderem für den "Spiegel", "Emma" und den "Tagesspiegel". Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Bücher "Hans mit scharfer Soße" und "Ali zum Dessert", in denen sie beschreibt, wie sie versucht, den richtigen Ehemann zu finden.

Martin Schubert

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