Raser-Prozess Er raste einen Radfahrer tot – und soll freikommen. Ist das gerecht?

Der Unfallort, Polizeiwagen stehen rechts im Bild neben dem Fahrrad des Opfers Bernd W. mit einer roten Kreidelinie markiert
Unfallort: die Kantstraße auf Höhe des Savignyplatzes in Berlin
© Miriam Krekel / BILD
Noch ist das Urteil nicht gesprochen, aber wahrscheinlich wird der Richter das Verfahren per Strafbefehl abkürzen. Der Täter kann mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr rechnen – auf Bewährung. Die Angehörigen des Opfers sind entsetzt. Und der Rechtsstaat wird der Lächerlichkeit preisgegeben. 

Bernd Wissmann hatte keine Chance, als sich der schwere BMW mit hoher Geschwindigkeit von hinten näherte. Am Bahnhof Zoo hatte der 64 Jahre alte Architekt an jenem Tag im Februar 2020 gerade Bahn-Fahrkarten gekauft. Jetzt war er mit seinem Fahrrad auf dem Rückweg. Er fuhr auf der Busspur der Kantstraße im Berliner Stadtteil Charlottenburg. Am Steuer des BMW saß Anatoliy K., ukrainischer Staatsbürger, Mit-Inhaber eines Pflegedienstes. Obwohl dort, in Höhe des Savignyplatzes, nur Tempo 30 erlaubt ist, soll K. mit 73 Kilometern pro Stunde unterwegs gewesen sein. Ein Lieferwagen auf der linken Spur war ihm zu langsam, mit seinem 600 PS starken Wagen wollte er rechts überholen, als der Lieferwagen plötzlich ebenfalls auf die rechte Spur wechselte. K. hätte bremsen können, aber er tat es nicht.

Stattdessen wich er auf die Busspur aus – und erfasste Bernd Wissmann auf seinem Fahrrad. In der Anklageschrift heißt es: "Durch den Aufprall wurde der Geschädigte circa 37 Meter weit nach vorn auf die Fahrbahn geschleudert", wodurch er "ein Polytrauma nebst Genickbruchs erlitt, an welchem er noch am selben Tag verstarb".

"Durch den Aufprall 37 Meter weit auf die Fahrbahn geschleudert"  

Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft lautet auf fahrlässige Tötung. Das Gericht kann eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren verhängen. Aber dazu wird es wohl nicht kommen. So wie es jetzt aussieht, wird Anatoliy K. zwar damit leben müssen, dass er ein Menschenleben auf dem Gewissen hat – aber er wird kein Gefängnis von innen sehen. Und ein freier Mann bleiben.

Wie ist so etwas möglich? 

Dreieinhalb Jahre lang mussten Sabine S., die Witwe, und Ruben L., der Sohn des Opfers, auf den Prozess warten. Ein paar Sekunden dauerte es nur, ihnen den Mann und den Vater für immer zu nehmen. Aber bis es zur Verhandlung kommen konnte, verging sehr viel Zeit. Erst fanden die chronisch überlasteten Richter des zuständigen Amtsgerichts Berlin-Tiergarten keinen Termin, dann ließ sich der Angeklagte zweimal krankschreiben. Dreieinhalb Jahre können sehr lang sein, wenn man auf Recht und Genugtuung wartet.

Der angeklagte Anatoliy K.(r.) mit seinem Anwalt, Andreas Schulz
Der angeklagte Anatoliy K.(r.) mit seinem Anwalt, Andreas Schulz
© RTL

Ein Rechtsstaat als seelenlose Prozessmaschine

Doch jetzt, wo es endlich losgehen könnte, müssen die Angehörigen erleben, dass der Rechtsstaat in bestimmten Fällen keine Empathie kennt, sondern eine seelenlose Prozessmaschine sein kann. Dass es einen großen Unterschied gibt zwischen Recht und Gerechtigkeit. Dass vor Gericht Menschen wie sie, mit ihrem Schmerz, ihren Tränen und ihrer Trauer nur den Laden aufhalten. Und im Zweifel auch so behandelt werden.

Der Angeklagte Anatoliy K. vor Gericht
Der Angeklagte Anatoliy K. vor Gericht
© Olaf Wagner / BILD

Im Saal 138 des Amtsgerichts mussten sie am vergangenen Donnerstag ertragen, wie der zuständige Richter Stefan Schmidt mit milder Stimme versuchte, ihnen beizubringen, dass er in das sogenannte Strafbefehlsverfahren überzugehen gedenkt und den Täter lediglich zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilen will. "Zudem bleibt die Fahrerlaubnis entzogen, der Angeklagte kann keine neue beantragen vor Ablauf von einem Jahr und drei Monaten." Auch das dürfte zu verschmerzen sein.

Wenn es tatsächlich so kommt, verbringt Anatoliy K. nicht einen Tag im Gefängnis für seine brutale Rücksichtslosigkeit, die Bernd Wissmann das Leben kostete.

Mit einem Strafbefehl erspart sich das Gericht eine zeitraubende Hauptverhandlung mit Zeugenbefragungen, der Einvernahme von technischen Sachverständigen und allen Unwägbarkeiten, wie Befangenheits- und Beweisanträgen, die von der Verteidigung gestellt werden könnten. Man nimmt sozusagen die Abkürzung – vor allem dann, wenn die Schuld des Angeklagten ohnehin festzustehen scheint.

Den Antrag für eine solche Abkürzung stellt der Staatsanwalt, die Verteidigung kann ihr Veto einlegen. Tut sie es nicht, kann der Richter den Strafbefehlsantrag annehmen und das Urteil verkünden.

Deals hinter verschlossenen Türen

In der Regel wird all das von Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Richter hinter verschlossenen Türen ausgehandelt. Die Öffentlichkeit, die eigentlich einen Anspruch darauf hat, dabei zu sein – so ein tragender Grundsatz des deutschen  Strafprozessrechts –, muss draußen bleiben. Man darf sich das Ganze als eine durchaus handfeste Sache vorstellen. Es wird gefeilscht und gehandelt, bis alle direkt Prozessbeteiligten, also Staatsanwalt, Verteidigung und Richter "an Bord" sind. Und den Deal mitmachen. Die Angehörigen des Opfers haben dabei nichts zu melden, auch wenn man ihre Zustimmung natürlich gern sieht. So lässt sich das Ganze besser in der Öffentlichkeit verkaufen.

So soll es wohl auch in diesem Fall laufen. 

Witwe und Sohn des getöteten Radfahrers sind zwar als Nebenkläger zugelassen. Aber eben nicht als Ankläger. Ankläger ist der Staat, vertreten durch den Staatsanwalt. Der Staat muss die Rechte der Angehörigen wahren, zumindest mitbedenken. Noch ist nichts entschieden, aber es sieht ganz so aus, als wolle Richter Schmidt die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen und die Akte schließen. Schließlich stapeln sich bei ihm noch zahlreiche andere Akten, die ebenfalls auf Bearbeitung warten.

Das ist sicher ein Argument. Aber ist es auch ein gutes? Was ist mit dem Sinn und Zweck jeder Strafe, der "Spezialprävention" (der Täter soll abgeschreckt werden, so etwas noch mal zu tun) und der "Generalprävention" (alle anderen sollen abgeschreckt werden, so etwas zu tun)?

Das Leben und die Gesundheit anderer waren dem Täter nicht wichtig

Wer mit über 70 km/h durch die Stadt rast, wo nur 30 km/h erlaubt sind, der weiß, dass Bremswege verlängert und Reaktionszeiten verkürzt werden. Der weiß auch, dass er im Ernstfall andere in Lebensgefahr bringen kann, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Und im Stadtverkehr kann immer etwas Unvorhergesehenes passieren. K. ist trotzdem viel zu schnell gefahren. So wichtig war ihm sein eigenes Fortkommen – und so unwichtig das Leben und die Gesundheit anderer. 

"Das ist für Sie mit Sicherheit ganz unbefriedigend", sagte der Richter vergangene Woche zur Witwe und zum Sohn des Opfers, die neben ihrer Anwältin saßen. "Es ist eben leider so, dass es in solchen Verfahren nie zu einer Lösung kommen kann, wo die Angehörigen sagen, jetzt kann ich mich mit der Sache auseinandersetzen. Man kann es nicht ungeschehen machen. Ich hoffe nur, dass dieser Prozess so einen Abschluss findet, und das wollen wir so erreichen."

Natürlich kann niemand Bernd Wissmann wieder ins Leben zurückholen. Aber ist das ein Grund, bei den Angehörigen einem Trauma (dem des Verlusts eines geliebten Menschen) noch ein zweites (das des verletzten Rechtsgefühls) hinzuzufügen?  

Sabine S. schaute nach unten und kämpfte für einen Moment mit den Tränen. Dann ergriff sie das Wort. "Wir sind ja auch gefragt worden, ob wir einverstanden sind mit dem Strafbefehl. Und wir sind es nicht. Nicht ohne Verfahren, nicht ohne Prozess. Dreieinhalb Jahre haben wir gewartet, es ist für uns nicht leicht, jetzt wieder zu warten auf einen Termin. Aber auf jeden Fall sind wir nicht einverstanden mit einem Strafbefehl."

Ihnen direkt gegenüber saß der Angeklagte, ein stämmiger, großer Mann in einem weißen Hemd, der seinen Anwalt, Andreas Schulz, eine Erklärung vortragen ließ: "Mein Mandant ist bereit, die volle Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Er weiß um das Leid und den Schmerz der Angehörigen und dass eine Wiedergutmachung unmöglich ist."

Schulz ist ein erfahrener Strafverteidiger, er hat bereits Opfer der NSU-Mordserie und des Anschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz vertreten. Er gilt als einer der versiertesten seines Faches und er hat im Vorfeld ganze Arbeit geleistet. In einem 24 Seiten langen Schreiben an das Gericht nimmt er die Anklage auseinander, kritisiert die vorgenommene Unfallrekonstruktion mithilfe des ausgelesenen "Airbag Event Recorders" aus dem Auto des Täters, lehnt zwei technische Sachverständige wegen Befangenheit ab. Das Resümee des Verteidigers klingt vernichtend: "… sich auf vermeintlich objektive, aber befangene Sachverständige und lückenhafte Gutachten zu verlassen bringt sowohl für die Angehörigen als auch für den Angeklagten keine Gewissheit, ob Letzterer rechtlich für den Tod von Herrn Wissmann verantwortlich ist". 

"Dann wünsche ich Ihnen allseits noch einen schönen Tag"

Für den Richter ist damit klar: Wenn er nicht die Abkürzung per Strafbefehl nimmt, dann wird es ein langes, mühseliges und überaus kompliziertes Verfahren. An dessen Ende womöglich ein Urteil steht, das kaum über das aus dem Strafbefehl hinausgehen würde. Oder vielleicht, schlimmer noch: ein Freispruch. Denn möglicherweise haben die Ermittlungsbehörden bei der Rekonstruktion des Unfalls tatsächlich schlampig gearbeitet. Anwalt Schulz hat seine Instrumente gezeigt. Wie es aussieht, dürfte das ausreichen. Er hat seinen Job gemacht, und er hat ihn gut gemacht. Das ist ihm nicht vorzuwerfen. 

"Dann wünsche ich Ihnen allseits noch einen schönen Tag", so der Vorsitzende am Ende der Verhandlung. Es mag eine gewisse Unbeholfenheit gewesen sein, wirkte aber doch seltsam und etwas deplatziert. Welchen "schönen Tag" sollten die Angehörigen des tot gefahrenen Radfahrers bitte haben?

Kein Rechtsstaat kann auf die Dauer existieren, wenn die Menschen sich von ihm verlassen fühlen

Noch ist kein Strafbefehl ergangen. Sowohl die Witwe als auch der Sohn von Bernd Wissmann würden es als Verhöhnung ihres Leids empfinden, wenn der Angeklagte weiter als freier Mann herumlaufen kann – als wäre nichts gewesen. Noch hat der Staatsanwalt die Chance, einen Strafbefehl gar nicht erst zu beantragen. Und wenn doch, dann hat Stefan Schmidt als Richter die Chance, ihn abzulehnen. Beide tragen jetzt eine große Verantwortung.

Denn auf die Dauer kann kein Rechtsstaat existieren, wenn die Menschen sich von ihm verlassen fühlen.