Diesen Text gibt es auch zum Hören:
"Every time you feel sad about humanity, come back and watch this."
(Kommentar auf Youtube; deutsche Übersetzung: "Jedes Mal, wenn die Menschheit dich traurig macht, komm zurück und schau dir das an.")
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Der 25. September 2022, sagt Claus-Henning Schulke, war ein perfekter Tag. An diesem Tag wurde er weltberühmt, aber das meint er gar nicht. Er meint das Wetter. Weltrekordwetter, sagt Schulke.
Er wartete damals an der Verpflegungsstation. Er kauert, er lauert, tritt von einem Bein aufs andere, jede Faser seiner drahtigen Gestalt gespannt. Alles an Schulke ist neonfarben, der Helm, die Jacke, der Rucksack, alles schreit: Ich bin hier!
Die Läufer tauchen auf. Eliud Kipchoge, der Größte der Geschichte, ist schmal und klein, nähert sich, es heißt, er, die Legende aus Kenia, sei auch der Anmutigste, in Schulkes Worten: der läuft nicht, der schwebt.
Schulke fährt den Arm mit der Flasche aus, brüllt "Eliuuuuuuuuud", "Eliiiiiiiuuuuuuud!" Schulkes Gesicht härter als Berlin, die Lippen ein Strich. Fünf Meter noch. Kipchoges Blick ist starr, geht nach rechts, suchend, findet Schulke.
Der sinkt noch weiter in die Knie, lauert wie eine Katze vor dem Sprung, und jetzt, bei jedem Schritt Kipchoges, pendelt auch Schulke, ihre Bewegungen werden synchron, fast eins, wie zwei Vögel im Flug, die aus verschiedenen Richtungen kamen und jetzt gemeinsam gleiten.
Jetzt, kurz vor der Übergabe, sieht es so aus, als würde Schulke knien. Die Flasche reicht er von unten, wie ein Bettler, der am Wegesrand wartet auf den König. Kipchoge greift zu, erwischt die Flasche, behält sie, muss weiterlaufen, dem Sieg entgegen.
Schulkes Gesicht verliert Spannung, er brüllt, klatscht, schüttelt beide Fäuste in die Luft. Aber keine Zeit, er muss weiter. Seine Bewegungen sind ein wenig eckig, linkisch, er erinnert an Thomas Müller, der nachahmen soll, wie er jemandem eine Flasche übergibt; und zwar so, als ginge es um Leben und Tod.