Dänemark und seine ehemalige Kolonie Sie wurden für Erziehungsexperimente ihren Familien entrissen. Jetzt kämpfen die "Experimentkinder" von Grönland für Gerechtigkeit

Ein Foto der Überlebenden Helene Thiesen zeigt die Gruppe der Kinder, die wieder zurück in Grönland im Kinderheim sind
Ein Foto der Überlebenden Helene Thiesen zeigt die Gruppe der Kinder, die wieder zurück in Grönland im Kinderheim sind
© Nikolai Linares / Imago Images
Anfang der 1950er Jahre wurden auf Grönland Kinder aus ihren Familien gerissen und nach Dänemark gebracht. Dort sollten sie Dänisch lernen und zu einer neuen grönländischen Elite erzogen werden. Doch für die Kinder endete das Experiment traumatisch. Nun fordern sie Gerechtigkeit.

22 Kinder. Sie sollten zu einer "Elite" herangezogen werden, die Grönland modernisieren sollte. Doch für die Kinder endete das Erziehungsexperiment mit psychischen Traumata, Alkoholismus, Suizid oder Obdachlosigkeit.

Bis 1953 war Grönland noch dänische Kolonie. Dänemark wollte seine Kolonie nach dem Zweiten Weltkrieg modernisieren und Reformen auf den Weg bringen, etwa für das Bildungssystem. Auf der größten Insel der Welt herrschten damals Armut, der Lebensstandard war schlecht, Krankheiten grassierten. Grönländer und Dänen wollten die Situation an die in westlichen Ländern anpassen.

Das wachsende Interesse an Grönland im Dänemark der Nachkriegszeit führte zu einer Reihe von Vorschlägen, deren Zweck es war, grönländische Kinder sozial zu unterstützen. Dies führte unter anderem 1950 zu der Entscheidung, ein Team grönländischer Kinder für einen einjährigen Aufenthalt nach Dänemark zu schicken. Sie sollten Dänisch lernen und eine moderne Gesellschaft kennenlernen, um später ihr Land selbst zu modernisieren. Man dachte, wenn man die Kinder in Dänemark ausbilde, könnten sie Grönland als Teil einer "Elite" voranbringen. Beteiligt an dieser gut gemeinten, aber fatalen Entscheidung waren die Behörden in Dänemark und Grönland, die grönländischen Nationalräte und private dänische Organisationen.

Die Presse bejubelte das Experiment

Die dänische Kinderhilfsorganisation Red Barnet und die grönländischen Behörden legten Kriterien fest, welche Kinder für einen einjährigen Aufenthalt nach Dänemark sollten. Sie sollten Waisen sein, sechs bis sieben Jahre alt, gesund und intelligent. Die erste Hälfte ihres Dänemark-Aufenthaltes sollten die Kinder in Heimen leben, danach in Pflegefamilien. Nach der Zeit in Dänemark sollten die Kinder in einem Heim in Grönland leben. In Grönland suchten Pfarrer in Heimen und Schulen nach geeigneten Kindern.

Doch es fanden sich nicht genügend Kinder, auf die diese Kriterien zutrafen. Daher wurden diese aufgeweicht. So wurde das Alter auf fünf bis acht Jahre ausgeweitet und die Kinder konnten auch nur Halbwaise sein. Viele Erziehungsberechtigte gaben zwar ihr Einverständnis dafür, dass man ihre Kinder wegschicken würde. Es bedeutete aber für viele Kinder, dass sie ihre Eltern nicht wieder sehen würden.

Am 7. Juni 1951 kamen die ersten 15 Kinder in Dänemark an Bord eines Schiffes an. Mehrere Hundert Menschen hatten sich zur Begrüßung am Hafen versammelt. Die Kinder wurden schnell Gegenstand der Presse. Schlagzeilen wie "Verwaiste grönländische Kinder in Dänemark", "20 kleine Grönländer auf dem großen Abenteuer", "20 grönländische Kinder in Waisenhäusern in Dänemark" oder "Verwaiste grönländische Kinder bekommen ein Jahr Wohnsitz in Dänemark" zierten die Zeitungen.

Eine Zeitung beschrieb die Verschickung der Kinder sogar als "eine glückliche Initiative, und man muss hoffen, dass dies nur ein kleiner Anfang für eine Entwicklung, die für die Zukunft Grönlands und für die Beziehungen zwischen Dänemark und Grönland von größter Bedeutung sein wird". Auch in grönländischen Zeitungen wurde ein positives Bild des Experimentes gezeichnet. Der Bevölkerungen in Dänemark und seiner Kolonie wurde gezeigt, dass es den Kindern gut gehe.

Zurück in Grönland ging es ins Heim

In den Heimen wurden die grönländischen Kinder von dänisch sprechendem Personal betreut. Für die Kleinen war Dänemark fremd, vieles kannten sie nicht. So berichteten einige der Kinder später, dass es für sie ein großer Kulturschock gewesen sei. Sie berichten von seltsamen Bräuchen der Menschen, seltsamen Fahrzeugen in den Städten, über die eigentümliche Natur der Landschaft, über bisher unbekannte Früchte, Blumen und Tiere. Die Kinder erlebten zum ersten Mal das Baden im Meer. Sie waren das erste Mal auf einem Bauernhof und kletterten auf Bäume.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

Wollen Sie nichts mehr vom stern verpassen?

Persönlich, kompetent und unterhaltsam: Chefredakteur Gregor Peter Schmitz sendet Ihnen jeden Mittwoch in einem kostenlosen Newsletter die wichtigsten Inhalte aus der stern-Redaktion und ordnet ein, worüber Deutschland spricht. Hier geht es zur Registrierung.

Nach einem halben Jahr im Heim und einem weiteren halben Jahr in Pflegefamilien reisten die Kinder am 25. September 1952 wieder zurück nach Grönland. Von den 22 Kindern blieben sechs in Dänemark, da ihre Pflegefamilien Adoptionsanträge gestellt hatten. Auch der Abschied wurde von der Presse begleitet und das Echo zu dem Experiment war durchweg positiv. Der Aufenthalt wurde als große Chance für die Kinder und für ihre Weiterentwicklung und Ausbildung gesehen. Man dachte, dass damit die Entwicklungen in Grönland vorangetrieben werden könne.

Für die Kinder war ihre Zeit in Dänemark aber alles andere als positiv. Die Kinder, die etwa adoptiert wurden, hatten plötzlich keinen Kontakt mehr zu ihrer leiblichen Familie. Auch wenn es von manchen Familien in Grönland ein Einverständnis gab, ist unklar, ob sie wussten, dass die Adoption ein endgültiger Verzicht auf das Kind war. In Grönland waren offene Adoptionen, bei denen die leiblichen Eltern Kontakt zu den Adoptiveltern und dem Kind haben, nämlich die Regel.

Schmelzender Eispanzer: Begehrte Insel: Seltene Rohstoffe locken Bergbaufirmen nach Grönland
Begehrte Insel: Seltene Rohstoffe locken Bergbaufirmen nach Grönland

Die anderen Kinder, die nach Grönland zurückkehrten, wurden nicht wieder in ihre Familien gebracht, sondern in ein Kinderheim in Godthåb, heute Nuuk. Dort wurden sie weiter auf Dänisch unterrichtet und betreut. Auch der Alltag der grönländischen Kinder war von dänischem Essen und dänischer Kultur geprägt. Die Kontakte zur Familie wurden stark eingeschränkt.

Soziale und psychische Probleme als Folge bei den Kindern

Die Kinder litten in den Jahren und Jahrzehnten später an den Folgen ihrer Verschickung und der Trennung ihrer Familien. Von den damals 22 Kindern leben heute noch sechs. Sie sind zwischen 75 bis 77 Jahre alt. Von den 16 Toten verstarben dreizehn noch vor ihrem 70. Lebensjahr. Auch Mord und Selbstmord gehörten zu den Todesursachen. Alkohol- und Drogenmissbrauch begleiteten das Leben der Kinder in den darauffolgenden Jahren, ebenso psychische und medizinische Probleme. Einige der Kinder lebten später in keiner Familie mehr. Bei den anderen waren die Familienverhältnisse zerrüttet, manche gaben ihre Kinder sogar selbst weg.

Abgesehen von den seelischen Schäden wurde das Ziel des Versuchs, eine "Elite" für Grönland heranzuziehen, verfehlt. Viele der Kinder gingen nur in die Berufslehre und viele blieben später nicht in Grönland. Nur wenige gingen den weiterführenden Bildungsweg.  

Eines der "Experimentkinder", das heute noch lebt, ist Eva Illum. Die 77-Jährige ist stolze Grönländerin, hat eine gute Ausbildung genossen, hatte gute Jobs, ein Haus in Dänemark, Mann, Kinder und Enkelkinder. Auf den ersten Blick scheint das Erziehungsexperiment für sie ein Erfolg gewesen zu sein. Doch der dänischen Zeitung "Avisen Danmark" berichtete sie von ihren seelischen Narben.

"Es war ein spannender Tag", erinnert sie sich an den Tag ihrer Abreise. "Als Achtjährige wussten wir nichts darüber, was Dänemark ist, wie weit Dänemark entfernt ist oder wie lange wir weg sein sollten." Gemeinsam mit ihrer Schwester war sie nach Dänemark gebracht worden. Als die Kinder dann in Pflegefamilien sollten, wurden sie getrennt. "Meine Schwester kam nach Odense und ich nach Fredericia. Es war schrecklich schwer, als wir getrennt wurden, wir weinten."

Verlust der Muttersprache

In Dänemark verlor sie ihre Muttersprache, das Grönländische. "Die Sprache verschwand nach und nach. Aber die Gastfamilien haben es mit guter Absicht gemacht", erklärt sie. Gegenüber ihren Pflegeeltern hat sie keinen Groll, hatte sogar Kontakt zu ihnen behalten.

Ihre leibliche Familie, ihre echte Familie, vermisste sie aber. "Es war nicht so, als würde ich sie die ganze Zeit vermissen, weil so viele neue Dinge passierten, aber ich hatte Sehnsucht nach meiner Familie. Abends weinte ich leise unter der Bettdecke." Oft habe man ihr gesagt, dass man "in Dänemark nicht weint".

Der Verlust ihrer Muttersprache bedeuteten für Eva Illum auch Hänseleien. Grönländische Kinder hätten sie verspottet und gefragt: "Ihr seid Grönländer – warum sprecht ihr nicht Grönländisch?"

Illum fühle sich "für ihr Leben gezeichnet" von dem Erziehungsexperiment. Sie hat keinen Zweifel daran, dass das, was sie und 21 andere Kinder durchlebt haben, ein Missbrauch war und ihr Leben beeinflusst hat.

Entschuldigung vom Staat

Lange kämpften Eva Illum und die anderen Überlebenden des Experimentes um finanzielle Entschädigung. Doch der Kampf um Gerechtigkeit ist lang und noch nicht zu Ende gekämpft. Am 27. Dezember dieses Jahres gab der dänische Staat einer Entschädigung nicht statt, wie Anwalt Mads Pramming am Montag dem dänischen Rundfunk Danmarks Radio sagte. Man wolle nun vor Gericht ziehen.

Im Dezember 2020 erfolgte bereits ein großer Schritt in Richtung Gerechtigkeit: eine offizielle Entschuldigung vom Staat. Ministerpräsidentin Mette Frederiksen sagte damals: "Ich verfolge den Fall seit vielen Jahren und bin immer noch tief berührt von den menschlichen Tragödien, die er enthält." Sie fügte hinzu: "Wir können das Geschehene nicht ändern. Aber wir können Verantwortung übernehmen und uns bei denen entschuldigen, um die wir uns hätten kümmern sollen, aber versagt haben."

Die Schicksale der 22 Kinder wurden auch medial aufgearbeitet. So erschien 1998 das Buch "I den bedste mening" (In bester Absicht) von Tine Bryld. Je einem Kind wird hier ein Kapitel gewidmet. 2010 erschien der dänische Film "Eksperimentet" von Louise Friedberg, der auf Brylds Buch basiert. 

"Ich habe noch nie eine Entschuldigung gebraucht. Jetzt habe ich den Brief von Premierministerin Mette Frederiksen erhalten, und das ist auch in Ordnung", sagte Illum dazu. Auf eine Entschädigung könne sie gut verzichten, sie sei in einem Alter, in dem Geld nicht mehr so wichtig sei. "Aber natürlich habe ich Kinder und Enkel, die davon profitieren könnten, also kann es ein Pflaster werden."

Eva Illum hat Zweifel daran, ob eine Entschädigung überhaupt etwas bedeutet. "Das Wichtigste ist, dass die Geschichte bekannt wird. Die großen Beamten haben uns nur hin und her geschoben, und ich habe mich manchmal wie ein Niemand gefühlt."