Gesellschaft Glück ist, wenn Pflicht und Neigung eins werden

Hat bei uns alles seinen Preis und nichts mehr Würde? Lernen wir nur noch, um zu funktionieren? Nein, glücklich sind wir erst dort, wo wir uns auf andere Menschen einlassen, schreibt der katholische Theologe Gerhard Beestermöller.

Kürzlich ging es mal wieder um die Pisa-Studie und die Qualität deutscher Schulen und Schüler. Über viele Jahre hat man geprüft, welches Land seine Schüler für die globalisierten Weltmärkte am besten ausbildet. Jetzt wird erhoben, welche Fähigkeiten es denn wirklich sind, die Menschen erfolgreich sein lassen. Man will Unternehmer und Manager befragen, welchen Fähigkeiten sie ihren Aufstieg verdanken. Mit diesem Wissen könne man die Bildung noch optimieren, um den markttauglichen Menschen heranzubilden.

Wie muss der Mensch sein, um dem Markt gerecht zu werden? Ist das die alles entscheidende Frage geworden, an der sich Bildung in Zukunft auszurichten hat? Natürlich, wir müssen unsere Kinder so ausbilden, dass sie an den zukünftigen Märkten bestehen können! Aber erschöpft sich der Wert von Bildung darin, den Menschen irgendwie für irgendetwas tauglich zu machen? Was heißt das überhaupt, dass jemand irgendwo zu taugt? Oder lässt sich über den Menschen auch anders nachdenken als über seine Tauglichkeit? Aber wie?

Der Mensch, ein Wesen, das Bedürfnisse hat

Fragen dieser Art haben die Menschen immer bewegt. Einer der ganz großen, der hierauf eine Antwort gegeben hat, war der Philosoph Immanuel Kant. Für ihn ist der Mensch zunächst einmal ein Wesen, das Bedürfnisse hat. Diese können höchst unterschiedlich sein, von den Begierden und Grundbedürfnissen bis hin zu raffiniertesten kulturellen Ansprüchen oder nur der Freude an Spiel und Zerstreuung. Wir streben eine unendliche Fülle von Dingen an, weil wir unsere Bedürfnisse befriedigen.

Alle diese Dinge haben eines gemeinsam. Sie haben einen Preis. Der Preis ist eine Art Wertmaßstab. Preise ermöglichen uns, Dinge zu vergleichen. Wir können entscheiden, ob uns bestimmte Dinge ihren Preis wert sind oder nicht. Natürlich gibt es Dinge, die wir kaufen müssen, um zu leben. Irgendetwas müssen wir essen. Irgendwie müssen wir wohnen und uns kleiden. Hätten wir aber diese Grundbedürfnisse nicht, wir wären vollständig frei, ob wir Essen, Kleidung und Behausung erwerben wollten.

Daneben aber gibt es Vorgaben an unser Handeln, die nichts mit unseren Bedürfnissen zu tun haben. Ja, wir erleben sie eigentlich erst richtig, wenn sie unseren Bedürfnissen widerstreiten. Darf ich einen Freund, der mich seit 40 Jahren treu durch jedes Auf und Ab des Lebens begleitet hat, im Stichlassen, wenn mich Zeit und Geld locken? Natürlich nicht! Und wir es doch tun, dann lässt uns unser Gewissen keine Ruhe. Es gibt Verpflichtungen, die sich nicht um unsere Bedürfnisse scheren und denen wir uns durch keine Ausreden entziehen können. Das ist es, was Kant meint, wenn er von kategorisch spricht.

Der maßlose Mensch verlangt auch nach Gehorsam

Der Mensch ist dieses merkwürdige Wesen, das in all seiner unendlichen Bedürftigkeit und häufig maßlosen Gier zugleich Anforderungen verspürt, die von ihm Gehorsam verlangen und keine Entschuldigung zu lassen. Diese Ansprüche, die ihm häufig so quer kommen, sind es, die ihm erst seine Würde verleihen. Für uns zeigt erst die Erfahrung, zu etwas gefordert zu sein, was uns überhaupt nicht schmeckt, aber keine Ausflüchte erlaubt, dass wir freie Wesen sind. Wir sind nicht nur unseren, angeblich unwiderstehlichen Sinneserregungen ausgeliefert. Gegenüber anderen gewinnen wir überhaupt erst Anspruch auf Respekt, wenn wir nicht jedem unserer Bedürfnisse nachgeben. Wie könnten wir ernsthaft Treue erwarten, wenn wir auf die Frage, warum jemand seine eigenen Interessen hintanstellen solle, um zu uns zu halten, nur auf unsere darauf verweisen können, dass wir das gerne so hätten?

Weil wir unbedingt gefordert sind, jenseits unserer Bedürfnisse Treue und Anstand zu wahren, sind auch die anderen verpflichtet, uns nicht nur einen Preis anzukleben, an dem sie Glückswert unserer Gesellschaft mit dem anderer Güter und Menschen abwägen können. Menschen dürfen sich, so in etwa Kant, niemals bloß als Mittel behandeln, sondern müssen sich immer auch als etwas achten, dass um seiner selbst willen da ist.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

Wollen Sie nichts mehr vom stern verpassen?

Persönlich, kompetent und unterhaltsam: Chefredakteur Gregor Peter Schmitz sendet Ihnen jeden Mittwoch in einem kostenlosen Newsletter die wichtigsten Inhalte aus der stern-Redaktion und ordnet ein, worüber Deutschland spricht. Hier geht es zur Registrierung.

Sollen wir also unsere Bedürfnisse vergessen und griesgrämig unsere Pflichten erfüllen? Gerade nicht! Die größte Glückserfüllung erleben wir doch nicht da, wo unsere Bedürfnisse übermäßig erfüllt werden. Wirklich glücklich sind wir dort, wo wir uns auf andere Menschen einlassen und zu ihnen stehen, unabhängig von unserem Eigeninteresse, und zugleich die Erfahrung machen, dass unser Partner, unsere Kinder und Freunde uns nicht ausnutzen, sondern unser Geben erwidern. Dann geschieht dies unglaublich Eigentümliche, dass unsere unerschöpfliche Gier und Begehrlichkeiten, gerade weil wir sie irgendwie vergessen haben, plötzlich wie durch die Hintertür Befriedigung erfahren. Mehr als nur das!

Mir sagte einmal eine junge Frau, die endlich den richtigen Beruf gefunden hatte: "Bisher war immer nur, was ich wollte, jetzt bin ich da, wo ich hingehöre!" Ja, wir fühlen uns leer, wenn wir nur das tun, was wir wollen, und nicht dazu durchstoßen, was wir tun und sein sollen. Darum geht es wohl, wenn wir von so etwas wie Erfüllung sprechen.

Warum finden so wenig Menschen Erfüllung?

Warum finden heute so wenig Menschen Erfüllung? Warum zappen wir gelangweilt von Kanal zu Kanal, um doch nur feststellen, dass uns auf allen nur die gleiche Langeweile anödet? Warum stürzen sich heute so viele junge Menschen in den Rausch der Gewaltspiele bis nicht mehr zwischen Virtualität und Realität unterscheiden können? Warum gieren so viele Menschen nach dem ultimativen Kick? Warum sind unsere Innenstädte gegen jede wirtschaftliche und ökologische Vernunft mit sündhaftteuren Geländewagen überfüllt, die kein Mensch wirklich braucht? Welche Verheißung liegt über den Konsumgütern, die Freiheit und Abenteuer verheißen, dabei doch eine Zigarette oder nur Seife sind? Warum zerbricht die Liebe heute so oft? Warum ist die Welt so eigentlich schal und leer geworden?

Kann es sein, dass uns das Bewusstsein der Würde des Menschen, von anderen Menschen, aber auch von selbst abhanden gekommen ist? Haben wir vielleicht den Geschmack dafür verloren, wie beglückend es ist, wenn Pflicht und Neigung eins werden und zu etwas viel Größerem werden? Haben wir verlernt, uns an den Augenblick zu verlieren und darin uns wiederzufinden? Was vermisst eigentlich der, der alles hat?

Können wir alles messen, berechnen, prognostizieren, beherrschen?

Hat alles für uns einen Preis? Können wir alles messen, berechnen, prognostizieren und letztlich beherrschen? Können wir auch uns selbst nur noch nach Maßgabe unserer Tauglichkeit wertschätzen? Wie müssten wir mit uns selbst umgehen, um wieder den Zauber zu entdecken, der über der Welt, den Menschen und den Dingen liegt? Wie können wir unseren Kindern das Bewusstsein der Würde schenken?

Das klingt so angestrengt! Doch manchmal bekommt man alles von ganz unerwarteter Seite und plötzlich geschenkt. Ich habe einmal unsere damals ganz kleine Tochter gefragt: Was willst du einmal werden? "Ich will gar nichts werden! Ich will Judith bleiben!" Ihnen allen ein gesegnetes Weihnachtsfest, dem Fest der Menschwerdung Gottes und hoffentlich auch des Menschen!

Gerhard Beestermöller